Klaus Maisel (2)

ERLEBTE KINDHEIT UND JUGEND IN GLATZ,
IN DER OBEREN SCHWEDELDORFER STRASSE UND UMGEBUNG

von Klaus Maisel

Am 17. Oktober 1924 wurde ich als Sohn des Malermeisters Max Maisel in Glatz im Haus Schwedeldorfer Straße 31 geboren und verbrachte dort bis Oktober 1941 meine Kinder- und Jugendzeit, die dann, wie bei vielen Gleichaltrigen, durch die Kriegsereignisse
-Arbeitsdienst und Wehrmacht - beendet wurde.
Die Schwedeldorfer Straße, die in den Unterring mündete, war eine der Hauptgeschäftsstraßen, immer voller Leben und mit vielen Geschäften unterschiedlicher Branchen bestückt.

Wie konnte sich da eine Jugendzeit abspielen?
Heute gibt es überall in den Städten verkehrsberuhigte Zonen und Spielstraßen. Jedoch so etwas Ähnliches hatte die obere Schwedeldorfer Straße damals auch zu bieten. Sie machte in Höhe unseres Hauses einen scharfen Knick, die Häuser ergaben dadurch einen rechten Winkel, und der Bürgersteig verbreiterte sich ab unserem Haus auf mehrere Meter. So hatten wir einen idealen Spielplatz. Der Autoverkehr war in den dreißiger Jahren minimal, es gab dafür noch viele Pferdewagen. Der Bürgersteig war mit großen Steinplatten ausgelegt, eine prima Fläche für viele Kinderspiele, und an Kindern gleichen Alters mangelte es in unserer
Ecke nicht.

Viele Spiele waren jahreszeitlich bedingt. Irgendeiner von uns fing mit
Kreiseln an, und wir anderen alle zogen in kurzer Zeit nach. Unter Kreiseln verstand man das Schlagen eines kleinen Holzkreisels mit einer Peitsche. Der Schlag versetzte den Kreisel in rasende Umdrehungen, und er sauste auf den Steinplatten den Bürgersteig rauf und runter (noff und nunder). Falls mal ein Kreisel bei einem besonderen Peitschenschlag aus Versehen gegen die Schaufensterscheibe vom Kolonialwaren-Geschäft von Kaufmann Wilhelm Wolff knallte, gab es eine kräftige Strafpredigt vom Besitzer persönlich, aber nach kurzen Bedenkminuten ging es lustig weiter!

Einige Tage später wechselte man zu anderen Spielen über. Sehr beliebt waren die Wettbewerbe mit dem
Flieger. Man faltete ihn aus einer Seite eines Schulschreibheftes, die hatte die ideale Größe dafür, und bei entsprechend guter Thermik flogen die Flieger bis in die Höhe der zweiten oder dritten Hausetagen.

Zwischendurch wurde auf dem breiten Trottoir gelegentlich Völkerball gespielt. Dabei durften die größeren Mädchen auch mitspielen!! Sonst waren die Mädchen von unseren Jungenspielen ziemlich ausgeschlossen. Sie beschäftigten sich mit Puppen, Verkaufsständen und kleinen Modeschauen in den zum Teil großen Hauseingängen.

Natürlich war unser Spielbereich nicht nur auf die Straße beschränkt. Oft verzogen wir uns in Gruppen in Richtung Krieger-Denkmal (heute nicht mehr vorhanden) auf den naheliegenden Spielplatz am Anfang von der Straße „Am Böhmischen Tor“, die in Verlängerung am Feuerwehr-Depot vorbeiführte. Dieser Spielplatz war von sehr gepflegten Rasenflächen und Blumenrabatten umgeben, außerdem standen in den Sommermonaten Kübel mit großen Palmen auf dem Rasen. Die Grünflächen wurden von der Stadtgärtnerei unter dem Stadtgärtnermeister Otto Raabe betreut. Damals lebte noch sein Vater, ein alter Herr mit weißem Bart. Wenn er auftauchte und uns fußballspielend auf dem Rasen sah, ließ er eine gewaltige Schimpfkanonade los, und sein Krückstock, den er immer bei sich hatte, flog in Richtung der Missetäter.

Einen besonders schönen Platz zum Austoben hatten wir aber noch in petto. Es war die
Reiterwiese an der Straßenkreuzung Halbe Meile und Hollenau-Neurode. Die war wild bewachsen und bot dadurch viele Versteckmöglichkeiten. Dieser Platz war einmal für einen Sportplatz-Ausbau vorgesehen, aber die Arbeiten sind dann wohl wegen Geldmangel eingestellt worden. Die halbfertigen Aufschüttungen und entsprechenden Vertiefungen schufen eine herrliche Kulisse für Indianer- und Bandenspiele. Da gab es natürlich als Folge auch eine Menge blauer Flecke, Hautabschürfungen und hin und wieder kräftige Heularien, denn es wurden bei diesen Kämpfen nicht selten persönliche Differenzen zwischen uns Jungen ausgetragen.

Zum Glück stand in den Sommermonaten an der besagten Straßenkreuzung immer der Eiswagen Pajonk, der von dem leider sehr früh verstorbenen Willy Wagner aus dem Haus Schwedeldorfer Straße 33 betreut wurde. An heißen Sommertagen ging nach einigen Stunden der Speiseeisvorrat zu Ende, und dann kam unsere große Stunde. Wir durften die leeren Eiskübel zur Firma bringen, kamen mit schweren vollen Kübeln, gefüllt mit leckerem Erdbeer-, Schoko-, Vanille- und Himbeereis wieder zurück und erhielten dann als großzügigen Trägerlohn ein Schiffchen voll Eis, welches im Verkauf am Stand den Wert von fünf Pfennigen hatte. Welch eine Köstlichkeit für uns verschwitzte Rasselbande!

Aber nicht nur der Sommer, sondern auch der Winter bescherte uns schöne Jugendtage. Schnee war bei uns
darheeme keine Mangelware, und schon verwandelte sich unsere relativ steile Straße in ein Rodel- und Kaschelparadies. Gestreut wurde die Straße kaum, da zur Winterszeit die Bauern aus dem Umland mit ihren großen Pferdeschlitten zum Einkaufen in die Stadt kamen.

Sobald wir Kinder aus dem Haus traten, schnallten wir die Skier unter, und es ging  ab in Richtung Kranich, wo wir unsere ersten Skifahrer-Lektionen lernten. Wer dann schon recht sicher auf den
Bretteln stand, wagte sich später in den alpinen Bereich der Wolfsschlucht mit ihren rasanten Abfahrten, die uns manchmal bis hinunter nach Halbendorf trugen. Der Rückweg war dann entsprechend beschwerlich, es ging ja bis auf die Kranichhöhe immer bergauf. Jahre später wurde die Gegend an der Wolfschlucht Siedlungsgebiet, und wir waren um ein tolles nahegelegenes Skigebiet ärmer.

Nicht vergessen möchte ich, dass das Kranichgelände in den Bereich der Festung überging. In der Sommerzeit wagten wir uns in unserem Entdeckungsdrang oft auf die äußeren Festungswälle vor. Gelegentlich gab es kleine Abbruchstellen, die wir zu Exkursionen in die Wallgräben nutzten. Immer hofften wir, vielleicht irgend etwas entdecken zu können, das sich leider stets als Fehlanzeige erwies.  Heute noch wundere ich mich darüber, dass bei diesen Klettereien keine größeren Unglücke passiert sind. Hin und wieder tauchte auch ein Wachmann auf, dann setzte die große Flucht in Richtung Kranich ein. Soweit ich mich erinnern kann, sind wir immer heil zurückgekommen, Nur gab es bei den wilden Fluchten oft kräftige Verbrennungen und dicke Kratzwunden an unseren bloßen Beinen, denn wir flüchteten meist quer durch Brennesselfelder und dorniges Gestrüpp. Wir ertrugen dies aber mit einem gewissen Stolz, war es doch ein sichtbares Zeichen dafür, dass wir in der Festung gewesen waren.
Der Frühling kam stets mit großem Tauwetter, und das ergab neue Spielmöglichkeiten, allerdings nicht immer zur Freude der Anlieger. Das Schmelzwasser strömte in breiten Bächen die Schwedeldorfer Straße hinunter. An den Straßenrändern lagerte noch bergehoch der geschippte Altschnee. An manchen Stellen konnte man einen Fußgänger auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig kaum sehen.
Jetzt bauten wir halbmeterhohe
Staudämme, und es bildeten sich große Teiche. Wenn dann eilige Passanten die Straße überquerten und nicht Obacht gaben, standen sie plötzlich bis an die Waden im kalten Schmelzwasser. Wir hatten unseren Spaß, die Betroffenen den Ärger. Natürlich war es von uns Lausejungen keiner gewesen!

Wie gerne und mit wie viel Vergnügen denke ich an diese unbeschwerte Jugend zurück!

Glatz, um 1935, Fronleichnams-Prozession in der Schwedeldorfer Straße
Glatz, um 1935, Fronleichnams-Prozession in der Schwedeldorfer Straße

TANTE-EMMA-LÄDEN IN DER SCHWEDELDORFER STRASSE
von Klaus Maisel

Im Gegensatz zu den heute üblichen Supermärkten und Einkaufs-Zentren gab es in unserer Straße sehr viele Fachgeschäfte, die man heute Tante-Emma-Läden nennen würde. Im Vergleich zu der heutigen Zeit herrschten damals bei uns himmlische Verhältnisse der kurzen Wege! Was gab es alles in unmittelbarer Nähe:

Gleich gegenüber von uns das große Kolonialwarengeschäft Wilhelm Wolff
erste Glatzer Kaffee-Großrösterei,
zwei Bäckereien: der Brode Bäcker und der Wiedemann Bäcker,
dazu die Fleischerei Kleineidam gegenüber der Einmündung der Judenstraße
später umbenannt in Lettow-Vorbeck-Straße und den Barth Fleischer,
die Zigarren-und Zigarettenhandlung Lubetzki,
Porzellanwarengeschäft mit Klempnerei und Schlosserei Reimann,
daneben Obstgeschäft und Milchladen Pfitzner und
das Kunsthaus Lepiarczyk, wo wir als Schulkinder unsere Malkästen, Pinsel und Zeichenutensilien kauften.
Ja, und nicht vergessen will ich den kleinen Laden an der Ecke der Judenstraße von Wendelin Wagner, die Roßschlächterei. Da lagen im Schaufenster immer so schön braun gebratene
Fleischbrotel, dass einem das Wasser im Munde zusammenlief. Wenn man dann als Kind die Mutter fragte: Warum essen wir nicht auch einmal so etwas?, dann erklärte sie mir, das sei doch eine Rossschlächterei, und wir würden nun mal kein Pferdefleisch essen. Später als Soldat war man oft glücklich über solche Appetithappen.
Bei der Aufzählung der Geschäfte möchte ich auch nicht die
Ski-Hölzerei von dem Tischlermeister und Skilehrer Fritz Laschtowitz im Haus Nr. 33 übersehen haben. Mit diesen, von ihm in handwerklicher Arbeit gefertigten Skier, machten wir unsere ersten Fahrversuche. Die Brettel, wie sie genannt wurden, waren aus Eschenholz. Wenn es ganz gute sein sollten, bestanden sie aus dem Holz des Hickory-Baumes. Zu erwähnen wären noch die Läden von der Lederwarenhandlung Lex, das Ofenhaus Paul Belle, der Bandagist Alex Mitschke, sowie der kleine Schreibwarenladen von Frau Maciejonczyk im Haus Nr. 26.

Alles war auf kürzestem Weg erreichbar. In manchem Supermarkt legt man heute beim Einkaufen größere Entfernungen zurück. Ja, und wer dann noch etwas Labsal für eine durstige Kehle und einen leeren Magen suchte, der fand auf diesem kurzen Abschnitt der Schwedeldorfer Straße auch das Richtige. Es waren drei Gaststätten vorhanden: die
Pilsener Bierstuben, das Lokal Zum Böhmischen Tor und die Weintraube, die auch einen gutbürgerlichen Mittagstisch anbot. Hier bekochte der Wirt seine Gäste selbst mit seinen international gesammelten Erfahrungen.

Ich glaube, viele ältere Glatzer können sich noch an die oben genannten Namen erinnern. Auf dieser Straße hatten wir das heute so oft vermisste
Urbane Leben vor unserer Haustür.

Die Zeit ist vergangen, viele der angesprochenen Häuser sind heute verwahrlost oder sogar abgerissen. Es gähnen schreckliche Lücken in den Häuserreihen. Nur in unseren Herzen lebt die Erinnerung an die intakte Schwedeldorfer Straße weiter.

Dieses kann uns Gott sei Dank niemand nehmen!

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Glatz, Schwedeldorfer Straße 31, Haus Maisel
Glatz, Schwedeldorfer Straße 31, Haus Maisel
Glatz, Schwedeldorfer Straße, Sommer 1941 oder 42, der Lange bin ich, Klaus Maisel
Glatz, Schwedeldorfer Straße, Sommer 1941 oder 42, der Lange bin ich, Klaus Maisel
Glatz, Schwedeldorfer Straße, gleiche Stelle, wie obiges Bild, aber 60 Jahre später
Glatz, Schwedeldorfer Straße, gleiche Stelle, wie obiges Bild, aber 60 Jahre später
Glatz, Schwedeldorfer Straße, das war vor 60 Jahren mal die "Weintraube"
Glatz, Schwedeldorfer Straße, das war vor 60 Jahren mal die "Weintraube"