Hildegard Sauer



Erlebnisse der Hildegard Sauer aus Eisendorf Kreis Neumarkt in Schlesien

 

Der Zusammenbruch zeichnet sich ab – Januar Februar 1945

 

Der 12. Januar 1945, mein 16. Geburtstag, ist mir mit schrecklichen Erlebnissen in Erinnerung geblieben. Im bäuerlichen Eisendorf, mitten im schlesischen Tiefland, zeichnete sich vor meinen Augen der Zusammenbruch des Dritten Reiches ab. Der Anblick der durch unser Dorf ziehenden Menschen, die mit Pferden und Ochsen bespannten Bauernkarren in klirrender Kälte vor einem unberechenbarem Feind flüchteten, war für mich so erschreckend, daß ich spontan meinen Koffer gepackt habe. Mein einziger Gedanke war die Flucht. Eine unbeschreibliche Angst vor der kommenden Katastrophe kam über mich. Das Herannahen der Roten Armee, das vom Oberkommando der Wehrmacht über Radio verschleiert durchgegeben wurde, und das so erschütternde Elend der Ende Januar 1945 von SS-Männern mit Schäferhunden durch unser Dorf getriebenen KZ-Häftlinge hätten genügen müssen, um die Flucht zu ergreifen, auch bei 26 Grad unter Null, denn die Lage war für uns aussichtslos. Die so durch unser Dorf getriebenen Menschen traten Schritt für Schritt wie wandelnde Skelette aus dem Schneegestöber hervor und manche fielen lautlos auf den gefrorenen Boden oder wurden von anderen, noch aufrechtgehenden Leidensgenossen, mitgeschleift. Keiner der Bewacher erbarmte sich ihrer. Die körperlich noch Gehfähigen zogen kraftlos auf unserer Dorfstraße weiter. Am Tag danach, als der Schneesturm nachgelassen hatte, wunderte ich mich über die schwarzen Punkte, die im Schnee auf der Straße zum Nachbardorf hin sichtbar wurden. Es waren die Konturen der steifgefrorenen Leichen, die aus den Schneeverwehungen herausragten. Grauen überkam mich und ich begriff jetzt, daß das erst der Anfang  dieses schrecklichen Kriegsendes sein würde. Meine 8O-jährige Großmutter weinte bitterlich.

 

Unterdessen setzten die Russen über das Eis, der in wochen­langem Frost zugefrorenen Oder. Auch Trecks von Jenseits der Oder kamen so mit ihren Bauernkarren durch unsere Dorfstraße. Es waren die stärksten Schneefälle des Jahrhunderts und die Oder, die bei normalem Winterwetter ein Hindernis gewesen wäre, machte die Flucht dieser mit Pferd und Wagen vor den Russen Flüchtenden zu einem Alptraum. Ein Flücht­lingstreck mit Menschen, der schon von weither kam und nur aus Frauen und Kindern bestand, schleppte sich durch unser Dorf. Es war nichts anderes als eine Flucht vor einer feindlichen Armee, die eher durch Schneeverwehungen als durch die Waffen der deutschen Wehrmacht aufgehalten wurde. Weil ihre Zugtiere unterwegs bei klirrender Kälte und durch die Strapazen verendet waren, zogen sie Schlitten oder umgedrehte Tische als Schlittenersatz hinter sich her. Ein alter Mann zog gemeinsam mit einem großen Hund ein bis zur Unkendlichkeit eingehülltes Kind auf einem Schlitten durch unsere Dorfstraße oder war es schon erfroren? Herrenlose Pferde und Kühe aus den Nachbarorten reihten sich in die Westwärtsziehenden ein. Sie wurden jedoch zurückgetrieben, weil das Fleisch für die Menschen in Breslau, der Stadt, die inzwischen zur Millionenstadt angewachsen war, benötigt wurde. In dieser winterlichen Stille hörte man plötzlich nie gekannte beunruhigende Geräusche ganz in unserer Nähe oder  war dieser Kampfeslärm noch weit von uns entfernt?

 

Viele Erwachsene glaubten einfach nicht, daß es das Vorrücken der Sowjetarmee sein könnte, aber es war der Donner schwerer Artillerie und der Lärm steigerte sich von Tag zu Tag. Schlimmer war jedoch die unheimliche Stille der Nacht. Diese lähmende Ungewißheit versetzte mich in Angst und Schrecken, weshalb ich mir in dieser aussichtslosen Lage meinen Koffer bereitstellte, obwohl niemand im Dorf flüchten wollte. Der Frost, der nachts beißend war und die Kampfhandlungen ver­stummen ließ, war am Sechsundzwanzigstem Januar bei 26 Grad Kälte und hellem Mondschein genauso bedrohlich wie die Furcht vor der Roten Armee, die an dem Tage noch auf der rechten Oderseite kämpfte. In den darauf folgenden Tagen überschritten die Russen die Oder, und auch mit schwersten Panzerwagen, sie fuhren einfach über die Eisdecke. Jeden Morgen drang bei klirrender Kälte erneut Kanonendonner vom Walde her zu uns ins Dorf.

 Der Lärm der herannahenden Front wurde in unserem Dorf zwar wahrgenommen, aber manche waren so verblendet und meinten, “Das läßt unser Führer Adolf Hitler doch nicht zu“.

 Der Waldgürtel, der im Osten den Horizont bildete, war in dieser sonst so herrlichen  Winterlandschaft für mich zum Schreckgespenst geworden. Mir, der 16-jährigen, ging bewußt durch den Kopf “Nur weg und raus aus Schlesien“.

 
Aus dem 60 km entfernten Breslau, der Stadt, die zur Festung erklärt wurde, kamen Frauen und Kinder zu Fuß über die verschneiten Straßen und suchten nach Bauern, die bereit waren gen Westen zu ziehen. Unter ihnen war eine junge Frau, die von Breslau bis zu uns ein Sommersportwägelchen mit ihrem anderthalbjährigen Kind über diese Entfernung in der Kälte geschoben hatte. Sie bettelte fortwährend, daß wir doch den Wagen fertigmachen und die Tiere einspannen und Richtung Westen fahren und sie mitnehmen sollten. Sie flehte uns an und fuhr mit dem auf dem dürftigen Koffer sitzenden Kind ständig hin und zurück, in unser Wohnhaus rein und wieder raus und weil sie allein Angst hatte und während sie so zögerte, erklang im Volksempfänger das Lied “Tapfere kleine Soldatenfrau“ Diese Frau hatte tatsächlich einen in Breslau stationierten Soldaten, ihren Ehemann, besucht. Sie war aus dem Westen und schrie nun laut und vor lauter Verzweiflung “Hitler, dieses Schwein“. überall im Dorf hörte man rufen “Die Russen kommen!“. Schließlich entschloß sie sich und fuhr in der Kälte ganz allein Richtung Westen. Eine Bauersfrau schrie “Unser Führer hat doch die Wunderwaffe“.

 Der Ostwind, der laut Hitlerlied, die Fahnen weit machen sollte, war jetzt beißend und der klirrende Frost so unerbittlich, daß eine Flucht dem Tod durch Erfrieren gleichkam. Diese allein flüchtende Frau war jetzt unterwegs zwischen zwei Ortschaften, deren Bewohner einerseits nicht weg wollten aber in der Nachbargemeinde längst gemeinsam getreckt waren. Verängstigt erklärten sich ältere Männer bereit oder wurden sie gezwungen als Volkssturmmänner Einsatz zu leisten? Sie legten Baumstämme am Dorfeingang quer, die als Hindernis gegen die vorrückende Rote Armee dienen sollten. Die herannahende Front war nicht mehr weit, so daß der Kampfeslärm stärker und die Tiere in den Stallungen unruhiger wurden. Das Schlimmste waren die Nächte, denn es waren inzwischen 28 Grad unter Null.

 Die Brunnen waren zugefroren und auf den Straßen lag ein Viertelmeter Schnee. Da wir ohne diesen Lärm nachts nicht wußten, wie weit die Front vorgerückt war, war an Schlaf nicht mehr zu denken. Deshalb ging ich nachts auf unseren Getreideboden, um in der Ferne den Horizont abzusuchen, der schon tagsüber kaum erkennbar war.

 Bereits am Abend des 8. Februar 1945 stellt der Bürgermeister von Eisendorf, August Niepold, fest, daß sowjetische Panzer auf der dicht am Ort liegenden Autobahn nach Osten, in Richtung Breslau rollten. Er alarmierte die Dorfbewohner, um gemeinsam vor Morgengrauen in Richtung Riesengebirge zu flüchten. Aber nur ein kleines Häuflein fand sich dann am Morgen ein. Die Ungewißheit des Ausganges bei unter -20°C, Dunkelheit und viel Schnee, nicht abgeschlossene Vorbereitung und auch Unschlüssigkeit waren die Ursachen, weshalb die Dorfbewohner nicht geschlossen flüchteten oder treckten, wie man es auch nannte. Die Leute vom Dominium wollten bei Tagesanbruch folgen, wozu es aber nicht mehr kam, da gegen 8.00 Uhr die Russen das Dorf schon besetzten.

Der Wagentreck bestand deshalb aus Familie Niepold und Breuer (Kinder aus dem Hause Wahlert), den Familien Schwarz und Lehrer Berger sowie Bernhard und Berta Neumann, deren Wagen ein Ochsengespann zog. (Ergänzung zum Treck von Wolfgang Leistritz, nach Angaben von Dr. Dieter Niepold, dem Sohn des Bürgermeisters)

Am Freitag, dem 9. Februar 1945 früh morgens von der Autobahn her kommend, tauchten Russen mit Panjewagen, auch Stalin-Panzern bis zu kaum bewaffneten asiatischen Gestalten, auf. Gleichzeitig kamen hinter den Stallungen und Häusern unseres Dorfes deutsche Soldaten hervorgeprescht, die sofort kampflos die Flucht ergriffen. Im selben Moment fielen die ersten von der Roten Armee abgefeuerten Schüsse. Ein deutscher Landser schrie uns Zivilisten zu, “Nicht in die Häuser, hebt die Hände, ergebt euch, sonst werdet ihr als Partisanen erschossen“, die Russen rückten  
näher und die Schüsse, die für die deutschen Soldaten bestimmt waren, peitschten dicht an unseren Köpfen vorbei.

 An der Stelle, wo wir vor Schreck mit erhobenen Händen wie angewurzelt in dem Kugelhagel standen, schossen die Russen gezielt auf die fliehenden deutschen Soldaten. Keiner erwiderte das Feuer, es war zu spät, sie flohen und wurden umzingelt. Einer wurde erschossen, die Leiche wurde ausgeplündert und die guten Stiefel ausgezogen, die ein Russe sofort anzog. Das Querlegen von Baumstämmen am Dorfeingang hatte nur dazu beigetragen, daß die Russen Feinde vermuteten und alles durchsuchten. Schon einmal war eine Armee, nämlich die “Grande Armee“ von Napoleon, auf ihrem Rückzug aus Rußland an unserem Dorf vorbeigezogen. Diese Armee hatte nicht gekämpft, sondern auf der Anhöhe Mühlberg, genannt “Franzosenhügel“, ihre Toten begraben. Auch Hitler ist unterhalb dieses Hügels einmal in einem Jeep mit erhobe­ner Hand vorbeigefahren, um 1937? die Autobahn einzuweihen. 

Von jetzt an begann ein anderes Leben. Die vorrückenden Russen, die den deutschen Soldaten nachjagten, wälzten mit ihren Panzern Tore, Zäune, Bäume und Brunnen nieder, er­schossen Kühe, Schweine und herumfliegende Hühner. Der Schnee war stellenweise rot und braun gefärbt, rot von den erschossenen Tieren und braun vom Eingraben der Kriegsmaschinerie in dem noch gefrorenen Boden. Die deutschen Landser liefen um ihr Leben und trafen auf eine vorbeifahrende Lokomotive. Dort an der Eisenbahnlinie Maltsch-Striegau wurde in 500 Meter Entfernung heftig gekämpft. Der Bahnhof Lohnig wurde in die Luft gesprengt. Die Rotarmisten, waren zunächst mit der Verfolgung der deutschen Soldaten beschäftigt, kamen aber später wieder oder waren es Neue, die da kamen?

 
Das Dorf war wie ausgestorben und ein paar Häuser weiter lag ein toter Russe, was nichts Gutes ahnen ließ. Da unser Dorf an einer Autobahnein- und -ausfahrt liegt, dauert es nicht lange bis andere Russen ins Dorf kommen und die Häuser durchsuchen nach Schnaps und Frauen, und daß sie beides finden, verdanken sie einer nicht weit entfernten Schnapsfabrik und der Tatsache, daß die meisten Dorfbewohner sich nicht zur Flucht hatten entschließen können.
Bis nach dem 13. Februar habe ich mich im Stroh unserer Scheune, auf dem Heuboden und zeitweilig auch unter meinem eigenen Bett versteckt gehabt. Die Angst, erst vergewaltigt und dann erschossen zu werden war für mich, die 16-jährige so groß, daß ich sieben Tage lang nicht aus diesen Verstecken herausgekommen bin, obwohl das Risiko im Stroh der Scheune entdeckt oder verbrannt zu werden, ebenso groß war, weil vereinzelt immer noch blindlings irgendwohin geschossen wurde. An den Koffer, den ich vermutlich aus dem Unter­bewußtsein heraus und dem Drang zum überleben gepackt hatte, dachte ich in diesen Verstecken ständig.

Die verstörten Dorfbewohner hörte man nicht, sie waren alle wie vom Erdboden verschwunden. Etwa nach dem 16. Februar zogen auf unserer Dorfstraße, genau vor unserem Haus, zehn oder zwanzig Personen in Richtung Osten vorbei, fast alle Frauen, ich griff nach meinen Koffer und rannte zu den Vorbeiziehenden. Schnell stellte sich heraus, daß sie nicht freiwillig weggingen, sondern von Rotarmisten eskortiert wurden und ich so freiwillig in diese Falle gelaufen war. Wir wurden ins Nachbardorf in eine Scheune getrieben, die schon voll war mit Mädchen und Frauen aus anderen Ortschaf­ten, die alle vergewaltigt werden sollten. Das Inferno begann mit den einstürmenden Rotarmisten am Scheunentor. Ich befand mich am Ende der Tenne. Die Schreie der vorne am Eingang gequälten Mädchen ließen mich an der Scheunenwand buchstäblich erstarren. Plötzlich hörte ich neben mir die Stimme einer verzweifelten Frau, die meiner Nachbarin aus unserem Dorf “Wir sind Liechtensteiner.“ Was verstehen Russen denn darunter? Kannte einer der Rotarmisten überhaupt dieses Fürstentum? Wie kam es, daß eine Frau, in einer so aussichtslosen Lage, an Liechtenstein dachte. Ganz spontan habe ich sofort geschrien “franzuskji“, was “französisch“ heißt. Ein Russe, der meinen Schrei vernommen hatte, packte mich am Arm und zog mich aus dem Durcheinander der Scheune heraus. Er ging mit mir zur Eisenbahnstation Schöneiche, 
wo er mich in einen Eisenbahnwaggon zu seinen Vorgesetzten, der „Kommandantura“ brachte.

 Dort wurde ich herzlich empfangen und bekam Wodka und fetten Speck zur Begrüßung. Vermutlich haben sie sich den Kopf zerbrochen, sie wußten wahrschein­lich nicht, was sie mit einer ‘Französin‘ machen sollten. Sie konnten mich Gott sei dank nicht verstehen. Jedenfalls war ich so „gerettet“ worden. Als ich nachts im Gepäcknetz des Eisenbahnwaggons der “Kommandantura“ lag und ich wegen der hinter mir liegenden sieben anstrengenden Tage und Nächte des Versteckens in Heu und Stroh trotzdem ab und zu eingeschlafen bin, habe ich beim Wachwerden darüber nachge­dacht, wie ich in mein nur wenige Kilometer entferntes Heimatdorf zurücklaufen könnte. Die Russen haben bis zur Neige der Nacht gesungen und gelacht und ich bekam eine Decke und heiße Milch ins Gepäcknetz gereicht, immer verbunden mit den Worten “Franzuska usw. “ was ich, außer Franzuska nicht verstand. Der Waggon wurde bewacht und an ein Entkommen ohne aufzufallen war nicht zu denken. Im Gepäcknetz habe ich an Dupont Marie als Namen und Straßburg als Geburtsort gedacht, da der einzige Junge in unserer Handelsschule in Liegnitz privat Französischunterricht nahm und mit der Aussprache des Namens “Dupont“ ständig geprahlt hatte.

Das Leben mit einer anderen Identität

Alles war auf einmal zusammengebrochen, die Heimat bedroht und verloren und ich hatte mir, weil ich keinen anderen Ausweg sah, einen anderen Namen zugelegt. Eine Flucht zurück in mein Heimatdorf wurde durch die vor der Komandantura postierten Bewacher unmöglich. Also gab es kein Zurück mehr, ich mußte bleiben wo ich war, und zwar mußte ich ab jetzt Französin sein. Die Russen, die mich so freundlich als Französin bewirteten, hätten nicht verstanden, daß eine “Französin“ zu den Deutschen überläuft. Die Hoffnung, als Französin herauszukommen, war weitaus größer als die einer Deutschen in den Westen zu gelangen. Durch meine spontane Reaktion in dieser Scheune habe ich ganz unbewußt eine Änderung meiner Identität vollzogen, die ich einer Frau zu verdanken hatte, deren Ehemann über Jahre hin, Hitler zu ihrem Gott gemacht hatte. Auf einmal mußte ich ein anderes Leben führen. Wer will schon mit 16 sterben?

Am nächsten Morgen brachte mich ein russischer Soldat zu den marschbereit stehenden und von den Russen vor etwa 10 Tagen befreiten französischen Kriegsgefangenen. Es war eine unüberschaubare Menschenmenge, alle in khakifarbener Uniform und mit Käppi. Keiner kümmerte sich um meine Ankunft, auch die französischen Frauen nicht, sie hatten große Sorgen, es ging nämlich nicht Richtung Westen, sondern ostwärts. Ich habe zunächst immer nur die zwei Worte “la Sibérie“ und “Wladiwostok“ verstanden und wußte nur, daß Sibirien kalt und Wladiwostok weit war.

Ich folgte der in Richtung Osten ziehenden Marschkolonne fast immer als Letzte, und zwar zusammen mit den Franzö­sinnen. Vor mir die Franzosen, hinter mir die russischen Bewacher. Die Russen duldeten in dieser Marschkolonne keine Unordnung. Die Ostfront lag jetzt für uns im Westen, und jeden Tag ging es so lange ostwärts bis die Dunkelheit einbrach und wir in Ortschaften mit Rittergütern - wie zum Beispiel Riemersdorf - ankamen oder in Dörfern mit leeren Schulen oder mit Heu und Stroh vollgestopften Scheunen übernachten konnten. Dort ließen wir uns nach diesen kräftezehrenden Tagesmärschen zum Schlafen einfach hinfallen. Manchmal gingen wir querfeldein über noch holperiges, aber schon auftauendes Gelände. Ringsum nichts als zerschossene Panzer, tote Pferde, auch sah man vereinzelt noch Arme oder andere Körperteile aus den durch Kriegsmaschinerie zerfurchten Feldern herausragen. Bis dahin waren sie vom Schnee verdeckt gewesen und traten erst jetzt zum Vorschein. Ich hatte ständig den Heimweg im Kopf. Wegen der in und um Breslau tobenden Kämpfe mußten wir diese Stadt im großem Bogen umlaufen, also wieder westwärts einbiegen, um Richtung Oberschlesien zu marschieren. Manchmal kamen parallel zu unserer Marschkolonne, russische Einheiten auch Panzer mit rasselnden Ketten ganz dicht an uns vorbei.

In einem der Rittergüter habe ich beim Durchsuchen ein Paket Zucker gefunden und es vor lauter Freude den Franzosen gezeigt. vor lauter Freude den Franzosen gezeigt. Die nahmen es bereitwillig an und ich bekam dafür eine Hähnchenkeule. In einem Dorf in der Nähe von Großtrachenberg stieß ich beim Suchen auf eine abgehackte Hand und beim Durchwühlen fand ein Franzose eine Brieftasche mit deutschen Geldscheinen, die er an sich nahm und den Inhalt unter viel Gelächter an einem Nagel über einem Plumsklo aufhängte.

Im Schutz der waldreichen deutsch-polnischen Grenzregion, liefen wir durch den vom Krieg heimgesuchten Grenzforst Neumittelwalde bei Militsch, etwa 40 Kilometer nördlich von Breslau gelegen. Hier an der deutsch-polnischen Grenze hatten heftige Kämpfe getobt und das Gelände war überall durchwühlt, weit und breit waren die Spuren sichtbar und die mit dreckigem Schnee bedeckten Felder boten einen Anblick des Grauens.

 Als wir ganz unerwartet in der Grenzregion Goschütz in die entgegengesetzte Richtung getrieben wurden, schöpfte ich Hoffnung, doch wieder zurück in die Heimat zu kommen. Diese Gegend kannte ich bestens, da ich mit 15 dort mit anderen Jungen und Mädchen Panzergraben schachten mußte. Von einem Tag zum anderen hatten wir die Schule verlassen und uns mustern lassen müssen, um paramilitärischen Dienst zu leisten. Diese Ortschaften kannte ich also, ich müßte einfach nur ausscheren, um von der Marschkolonne wegzu­kommen und es müßte schnell gehen, was aber den auf Ordnung achtenden russischen Bewachern aufgefallen wäre. Auf der Straße von Großwartenberg Richtung Oels trafen wir an Wegeskreuzungen erneut mit versprengten Trupps der Roten Armee zusammen. Im Schloß Oels angekommen, haben wir uns niedergelassen und es gab erstmals eine richtige Mahlzeit. Es wurde eiligst ein Fest vorbereitet, gegessen und getrunken. Vor Beginn der Feierlichkeiten forderte mich eine Französin auf deutsch auf, die französische Nationalhymne zu singen. Es gab zwischen den anderen Französinnen meinetwegen heftigen Streit, sie konnten sich natürlich denken, daß ich keine Französin war, denn welche Elsässerin spricht solch ein Deutsch und kein Wort Französisch.

Es wurde eine Bühne aufgebaut und plötzlich erschien eine Französin, bei der es sich vermutlich um Juliette Greco handelte, die sich zu dieser Zeit angeblich in Breslau aufgehalten haben soll. Sie sang so wunderschön das Lied „Le soleil a rendez-voue avec la lune“ von Charles Trenet, womit die Feierlichkeiten eingeleitet wurden. Vom Oelser Schloßturm aus waren die in die Stadt einmündenden Straßen zu sehen und in der Ferne Geschützdonner zu hören. Plötzlich kam eine wichtige Meldung, die ich aber nicht verstand und wir mußten wieder weiter und wechselten erneut die Marschrichtung. Drei oder vier Tage lang ging es schließlich zu Fuß weiter Richtung Oberschlesien. Dort mußten wir in Viehwagen ohne Bedachung einsteigen. Es war schon Anfang März und für diese Jahreszeit war das Wetter Tag und Nacht sommerlich warm und trocken. Ein Franzose half mir beim Aufspringen in die Viehwaggons, immer war ich in der Nähe der Masse der Franzosen aus Angst, ich könnte allein zurückbleiben. Er packte mich am Arm und verschaffte mir sogar einen Stehplatz in einer Waggonecke. Wir standen in diesen Viehwagen ohne Bedachung tagelang so dicht aneiander­gedrängt, daß das ständige Halten und Wiederanfahren schon am ersten Tag zur Qual wurde. Wir durften immer aussteigen wenn der Zug hielt und er hielt oft. Wochenlang ging es so zusammengepfercht langsam voran durch Galizien, das südöst­liche Polen, Richtung Lemberg und immer war es die gleiche eintönige Fahrt mit langen Wartezeiten, die bis zu drei Stunden wegen Minenräumens dauerten.

 Die Landschaft trostlos und die Ortschaften niedergebrannt oder ausgeplündert. Alles verbrannte Erde, die die kämpfenden Armeen hinterlassen hatten.

 Die Lokomotive unseres Zuges wurde zwischendurch oft zum Ziehen anderer Züge eingesetzt. Immer wenn wir die Fahrt fortsetzten, konnte ich aufatmen, es hinderte mich auch keiner am Wiedereinsteigen. Es war nun schon Ende März 1945, und ich war schon sehr fern der Heimat.

 Am Ostersonntag, dem 1. April, begleitete der schon seit Tagen überall andauernde Sonnenschein unseren Zug immer noch und manche Franzosen pflückten beim Aussteigen Unkraut, oder machten sie Salat daraus? Jedes Halten und Wiedereinsteigen war für mich eine Tortur, weil ich immer aufpassen mußte, nicht zurückzubleiben. An einem Tag dieser zur Monotonie gewordenen Fahrt, wurde unsere Lokomotive zum Heranziehen eines anderen, mit Menschen besetzten Güterzuges eingesetzt. Es waren deutsche Kriegsgefangene. Dieser Zug wurde parallel zu unserem in Stellung gebracht und ein Waggon blieb auf gleicher Höhe zu unserem stehen. Plötzlich tauchten bewaff­nete Russen auf, brachten ihre Gewehrläufe in Stellung und richteten sie auf die inzwischen mit viel Geschrei und Gewehrkolbenschlägen herausgeholten deutschen Offiziere. Was genau los war, wußte im Zug der Franzosen wohl keiner. Diese Gefangenen mußten an unserem Waggon vorbei und sich einige Meter entfernt am Waldesrand aufstellen. Sie bekamen Spaten in die Hand und wurden mit furchterregenden Befehlen zum Graben gezwungen. Jeder wußte jetzt, daß sie ihr eigenes Grab schaufelten. Als die Grube tief genug war, wurde einer der Offiziere mit Gewalt zum Stillstehen aufgefordert und an die Stelle gestellt, die sonst bei Beerdigungen ein Priester einnimmt, die übrigen Offiziere, es waren etwa fünf, wurden der Reihe nach aufgestellt, so daß jedem klar wurde, daß ihnen ein Tod durch Erschießen bevorstand. Gleichzeitig wurden die einfachen deutschen Kriegsgefangenen dazuge­stellt. Der erste, direkt vor der Grube stehende Offizier erhob plötzlich die Hand zum Hitlergruß, stand stramm und rief laut aus “Für Volk und Vaterland“. Es kamen jetzt berittene Russen hinzu, die auf ihren Pferden sitzend Fahnen schwenkten und mit der Nagaika fuchtelten. Weitere deutsche Soldaten wurden unter Bewachung als Zeugen dieser Hinrichtung dazugestellt. Ein Offizier nach dem anderen wurde durch Genickschuß getötet. Die Soldaten mußten die Grube füllen und durften dann zurück in ihre Waggons. Stunden später erfuhren wir, daß sie unter Anleitung der Offiziere einen Fluchtversuch geplant und ein Loch in den Waggonboden gebohrt hatten.

 An Bahnstationen kleinerer Ortschaften boten Einwohner, alles Frauen, manche mit nur einem Ei in der Hand, Waren zum Tausch an gegen Salz, Seidenstrümpfe und andere Sachen. Wie lange noch würde es dauern, bis einmal das Wort “Paix“ oder “Mir“ laut hörbar würde, wie lange noch würden wir durch dieses verwüstete Polen fahren?

 Das schöne Wetter und wahrscheinlich Nachrichten, die ich nicht verstand, stimmten die Franzosen fröhlich und es wurde erneut gesungen “J‘attendrai le jour et la nuit, j‘attendrai toujours ton retour“ (Komm zurück ich warte auf Dich). Wir fuhren an ausgebrannten Gehöften, total nieder­gebrannten, ausgeplünderten Dörfern und halb verhungerten Menschen vorüber. Sie standen überall an den Bahnübergängen. Wir sind zeitweilig mehr geschIichen als gefahren, und nur manchmal durfte ich auf dem Strohboden des Viehwaggons schlafen. Wir waren schon so apathisch, daß sogar neben uns stehende Züge, aus denen Stimmen um Hilfe riefen, von uns kaum wahrgenommen wurden. Das viele Aussteigen steigerte nur meine Angst, ich wußte ja, daß ich dort nicht hingehörte und vielleicht auch nicht erwünscht war. Es gab für mich nur zwei Alternativen, entweder Frankreich oder Sibirien.

In Lemberg angekommen wurden wir verteilt und in kleineren Gruppen in der Stadtmitte untergebracht. Da viele Polen in Lemberg französisch sprachen, wurde hier ausführlich über die Vernichtung in den Konzentrationslagern gesprochen.

Nach ein paar Tagen Rast fuhren wir weiter Richtung Kiew und stiegen, nachdem wir die Curzon-Linie passiert hatten, in Tchepetovka aus. Dort wurde ich erstmals von den Franzosen verstoßen, weil sie zu viel Schlimmes über die Judenver­nichtung erfahren hatten. Ein junger russischer Soldat nahm mich mit in ein leeres und verwahrlostes Haus, das am äußersten Stadtrand von Tchepetovka stand und mit Gitterstäben versehen war. Dort sperrte er mich ganz allein ein. Er kam allerdings alle Tage zweimal und brachte mir zu essen und sprach mit mir sehr nett, zählte immer wieder bis sechzehn und wiederholte ständig “Woina“ und “Mir“. Jeden zweiten Tag ging er mit mir von diesem Haus aus über trockenen durch Dürre gehärteten Lehmboden, über ein Gelände das teilweise mit Hederich übersät war, zu einer Baracke, die in dieser Einöde von weitem sichtbar war. Darin war eine Kommandantur untergebracht. Ich wurde vorgeführt und befragt, doch sie konnten kein Deutsch, kein Französisch und ich konnte vor lauter Weinen nicht antworten. Es endete wie immer mit “nie platsch“ (weine nicht). Diese Befragung wiederholte sich jeden zweiten Tag und auf dem Rückweg in das verwahrloste Haus, mein Gefängnis, wurde der russische Soldat - vielleicht 20 Jahre alt - immer gesprächiger und da ich nur “Woina und Mir und nie platsch“ (Krieg und Frieden und weine nicht) verstand fing ich an nachzudenken über das, was ich nicht verstand. An einem Tage ging er mit mir vor das Haus und machte sechzehn Striche in den Lehmstaub, zwei strich er weg, So blieben nur noch vierzehn. Da ich dachte, ich wäre zu alt und müßte vierzehn sein und nicht sechzehn, glaubte ich, daß er über mich Bescheid wüßte, aber das hatte eine ganz andere Bewandtnis, wie sich später herausstellen sollte.

 

 

Der 9. Mai 1945 in Tchepetovka

 

-     Das Ende des Großen Vaterländischen Krieges

 

Am 9. Mai 1945 brachte der russische Soldat kein Essen, sondern kam mit einem jungen Mädchen, die etwa 14 Jahre alt sein konnte. Er rief laut aus “Mir“ und umarmte mich, das Mädchen sprach für mich unverständliche Worte und umarmte mich auch. Es ging zu Fuß in die Stadtmitte, dorthin, wo auf einem riesigen Marktplatz das Kriegsende gefeiert wurde. Überall jubelnde Menschen, wir kamen kaum durch. Viele hatten Fähnchen in der Hand. Der junge Soldat kaufte mir ein Tütchen Sonnenblumenkerne und ging mit uns beiden Mädchen in das an diesem Marktplatz gelegene Kino. Die Tür stand weit offen und gab den Blick frei auf einen übermächtig großen Hitler auf einer Breitleinwand. Die Akustik im Kino übertönte noch die der Feierlichkeiten auf dem Marktplatz.

 
Außer uns Dreien war kein Mensch im Kino. Ich hatte einen Ehrenplatz und saß zwischen dem Soldaten und dem Mädchen, das wahrscheinlich seine Schwester war, von der er vermutlich immer gesprochen hatte. Ich hielt das Tütchen mit den Sonnenblumenkernen in der Hand. Der Boden des Kinos war bedeckt mit ausgespuckten Schalen. Draußen auf dem Platz waren Tische mit Eßwaren, Eiern, Brot, Gurken, Wurst und Kreen aufgestellt. Wodka gab es in Hülle und Fülle und manche hatten schon so viel getrunken, daß sie Tische und Bänke umwarfen. Die Feierlichkeiten nahmen ihren Lauf, aber der Soldat und das Mädchen brachten mich zurück in das Haus am Stadtrand.

 
Am darauf folgenden Tag, also nach dem
9.  Mai 45, ging der Soldat mit mir wieder zur Kommandantura. Dort angekommen, stand ein deutscher Kriegsgefangener vor der Baracke, der mir erklärte, daß er Dolmetscher sei und Sommer heiße und als ich die Treppe zur Baracke hinaufging und schon auf der obersten Stufe stand, rief er, der noch unten stand, mir zu “Die wollen doch nur wissen wieso Du hier bist und woher Du kommst“, daraufhin habe ich mich auf der obersten Stufe stehend umgedreht und ihm herablassend erwidert “Wir haben den Krieg gewonnen, Sie haben ihn verloren“. Da ich ständig Angst hatte als eine Deutsche, die noch dazu lügt, wie die Offiziere erschossen zu werden, habe ich, die 16-jährige diesen Satz zu dem Deutschen spontan aber ganz entschlossen und überheblich ausgesprochen. Die Vorführung in der Baracke endete wie immer durch mein Weinen, ein Dolmetscher war also nicht nötig. Ganz allein in meinem Gefängnis habe ich schrecklich darunter gelitten, solche harten Worte gesagt zu haben, zu einem, dem ich erstmals seit Ende Februar meine Lage hätte erklären können. Diese Aussage hat mich die restlichen drei Tage, die ich in dem Haus noch gefangen gehalten wurde, so sehr bedrückt, daß ich an nichts anderes mehr denken konnte. Ich kam mir ganz verloren vor. Drei Tage nach dem 9. Mai brachte mich der russische Soldat zur Eisenbahn, wo die Franzosen in Per­sonenwaggons, mit einem Platz für jeden, saßen. Ich wurde einfach wortlos dazugesetzt und es ging schnell weiter über Zitomir Richtung Kiew.

 

 

 

Kiew - Odessa

 

-     Zweite Maihälfte 1945 bis Anfang August 1945

 

Auf dem Hauptbahnhof von Kiew angekommen, mußten wir umsteigen und auf einen Zug nach Odessa warten. Wir konnten kaum aussteigen, weil dieser Riesenbahnhof mit Menschen überfüllt war. Überall standen oder lagen sie, manche schliefen auf den Schienen, die meisten hängten sich schon vor der Abfahrt wie Trauben an die Züge und viele hatten die Dächer erklommen. Fast alle sahen armselig und in Lumpen gekleidet aus und manche hatten zweierlei Schuhe an. Das war alles, was ich aus meiner Sicht, der auf den Schienen Hockenden, sehen konnte. Auffallend waren die gut gekleide­ten Frauen in Militäruniform, die sich in diesem Gewimmel überall brutal Durchgang verschafften, um die Gleise für einfahrende Züge freizubekommen. Eine Nacht lang haben wir so wie die meisten anderen verbracht. Auf den Schienen schlief ich immer wieder ein, versuchte aber ständig aufrecht sitzend durchzuhalten, denn die Franzosen hätten ja weg sein können. In der Frühe ging es dann in einem speziell für die Franzosen reservierten Personenzug weiter Richtung Odessa.

Beim Aussteigen in Odessa packte mich ein Russe und trennte mich ein zweites Mal von den Franzosen. Mich überkam die Angst, wieder einzeln eingesperrt zu werden. Er ging mit mir zu Fuß auf einer breiten Straße der Stadt am Schwarzen Meer entlang und ließ mich plötzlich unbeaufsichtigt stehen. Ich war nicht gefesselt und hätte weglaufen können. Es war ein wunderschöner Tag und es roch nach Seeluft. Der Uniformierte kam jedoch zurück und gab mich in einem Durchgangslager für deutsche Kriegsgefangene ab. Dort erschien eine Frau, die sich Marianne nannte und Deutsch sprach. Ich wurde in einen Raum geführt, der so groß wie eine Besenkammer war. Es lag eine Matratze auf dem Boden und ein Schrank mit Medikamenten stand an der Wand. Bis zu meiner Ankunft war sie die einzige Frau in diesem Durchgangslager gewesen. Sie, die mir ihren richtigen Familienamen nannte, hat mir während der dort gemeinsam verbrachten Zeit nie angedeutet, daß ich doch niemals Marie Dupont heißen könne. Sie hat mich einfach Marie genannt. Sie war etwa 24 Jahre alt und konnte sehr gut Französisch. Einmal allein mit ihr, erklärte sie, daß ich alles tun solle was sie mir sagt “Wir müssen hier raus, sonst werden wir in Kohlebergwerken unter Tage oder in Sibirien arbeiten und erfrieren müssen“, wovon auch ich überzeugt war. Sie war entweder schon Ärztin oder hatte zumindest Medizin studiert, denn man nannte sie “Wratsch“. Sie war immer guten Mutes und hat oft dasselbe Lied gesungen “Du schwarzer Zigeuner, komm spiel mir was vor, damit ich vergessen kann, das was ich verlor“. Sie erklärte, sie sei Österreicherin und hätte einen Freund der Vivi hieß und schon länger im Lager der Franzosen auf sie warte. Sie wollte mit ihm zusammen auf einem der Repatriierungsschiffe über das Schwarze Meer nach Marseille mitfahren. Man hatte sie aber, genauso wie mich, zu den deutschen Kriegsgefange­nen gebracht. Es fuhren zu der Zeit, also etwa Ende Mai, tatsächlich noch Schiffe von Odessa durch den Bosporus nach Marseille. Sie sagte, Vivi würde auch mich mitnehmen.

 
Daran habe ich auch fest geglaubt und mir vorgestellt, daß wir als
blinder Passagier mitfahren könnten, daß sie uns vielleicht in einer Getreidetonne  verstecken würden, um uns auf ein Schiff zu rollen und wir dabei nicht erstickten, weil es schnell ginge. In den zwei darauf folgenden Monaten kam es aber ganz anders.

 Verglichen mit anderen Häusern der Stadt, war das Lager ein gut erhaltenes Schulgebäude und lag zwischen einer Haupt­straße und dem Schwarzen Meer. Das Meer war vermint, die Seiten zu den Nachbargebäuden bestanden aus hohen Mauern und zur Straße hin war ein hoher Zaun aus Stacheldraht mit einem Tor in der Mitte angebracht. Das Lager wurde auf der ganzen Linie des Drahtverhaus und am Toreingang von bewaffneten russischen Soldaten bewacht. Ich war die Einzige, die frei im Lagerhof herumlaufen durfte, natürlich nicht irgendwohin, sondern mußte zu den schon erkrankten Gefangenen Medika­mente, Heftpflaster usw. austragen, was jedoch nicht ganz ohne Zurufe der Wachposten im Lagerhof ablief, meistens schrien sie “Kuda“ wohin? Sprechen durften die deutschen Gefangenen mit mir nicht. Sie durften höchstens zu den Latrinen gehen, die den ganzen Tag über in der Hitze mitten im Lagerhof standen. Die Hitze auf diesem Gelände, das zugleich

Meeresstrand war, war wegen der Sonneneinstrahlung unerträglich. Mir blieb aber nichts erspart und ich mußte früh ausrücken mit einer Kolonne, um auf Baustellen mit einem Hammer den Mörtel von den Ziegelsteinen zu klopfen. Das dauerte täglich ganze acht Stunden. Immer wenn wir durch die Straßen zu diesen Trümmerfeldern zogen, durften die Kriegsgefangen singen, aber immer nur ein und dasselbe Lied

“In einem Polenstädtchen, da lebte einst ein Mädchen, das war so wunder-wunderschön usw...“. Ein Gefangener hat sich umgedreht und zu mir einmal gesagt “Du bist aber kein Polenkind“. Er bekam sofort eins mit dem Gewehrkolben über.

 Marianne hatte mich in den ersten Tagen nicht über ihren Fluchtversuch einweihen wollen, den besprach sie leise mit einem Gefangenen, der auch Arzt war. Doch eines Tages wurde der Arzt mit vielen anderen auf Lastwagen ins Innere der Sowjetunion abtransportiert.

 Sie bekam Besuch von ihrem Freund Vivi, der dann vor dem Stacheldrahttor stehen durfte, wenn er genügend Camel-Zigaretten und Corned-Beef-Dosen an die Bewacher abgegeben hatte, dürfte er vorzeigen, was für Marianne übrigblieb.

Während Mariannes Freund mit den Russen verhandelte, schritt ein Franzose draußen vor dem Lager den Stacheldrahtzaun ab. Wie schon gesagt, Marianne durfte aus ihrer “Infirmerie“ wie sie die Besenkammer nannte, nicht heraus, so daß ich diese feinen Sachen entgegenehmen durfte. Genau vor dieser Schule, also dem Lager, hielten blaue Straßenbahnen, die alt und klapperig waren. Immer stiegen Leute ein oder aus und viele sprachen mit den Posten, was aber keinen Gefangenen zur Flucht verleitet hätte. Das war zur Straße raus nicht möglich und auch nicht über das verminte Schwarze Meer, das wäre der sichere Tod gewesen.

 Nach Mariannes Plan sollten wir uns in der Dunkelheit durch die nicht befestigte Stelle unterm Stacheldraht durchrobben, und zwar solange noch Straßenbahnen fuhren und vor dem Lager hielten, weil so die Posten durch Gespräche und Zurufe der Aussteigenden abgelenkt wurden. Sie beschäftigte sich auch mit den Mondphasen. Sie wollte nichts dem Zufall überlassen, die Flucht mußte gelingen, denn Sibirien hatten wir immer im Hinterkopf. Die furchterregenden Befehle und die nachts wahrnehmbaren Schreie der Gefangenen in diesem meerumspülten Durchgangslager ließen unsere Fluchtvorstellung manchmal in weite Ferne rücken.

 Eines Tages, im Juli, zeigte sie mir Papier, einen Bleistift und den einzigen Wecker, der in dieser Sanitätsstube vorhan­den war. Und nur weil ich auf dem Wege zu den Gefangenen zwecks Versorgung mit Verbandszeug usw. frei herumgehen durfte, konnte ich mich heimlich nach oben bis zum Dachboden des Schulgebäudes durchkämpfen. Ich mußte geräuschlos eine mit Schutt überhäufte Treppe überwinden, um nicht die Aufmerksamkeit der auf der darunterliegenden Etage postierten Wachen zu erregen. Auf dem Dachboden waren verstaubte und mit Spinnweben überzogene Schulbänke und -stühle kreuz und quer übereinander aufgetürmt. Zu meinem Glück war ein heller Schimmer im Dach zu sehen, ein Loch, wo Ziegelsteine fehlten. Unten heil angekommen, sagte ich zu Marianne, daß ein Loch groß genug für mich im Dach sei und ich bereit wäre vom Dach aus, wie sie sich das ausgedacht hatte, alles zu beobachten. Sie gab mir am darauf- folgenden Abend die Utensilien und ich tat so, als würde ich mit Heftpflastern zu den Gefangenen gehen. Da ich wußte, wie es auf dem Schulboden aussah, bin ich leise direkt aufs Dach gekrochen und habe die Nacht über dort verbracht.

Von da aus konnte ich den Hafen von Odessa und herunter auf den Lagerhof und den Stacheldrahtzaun mit Posten ebenso wie auf die davor liegende Straße und die vor dem Lager haltenden Straßenbahnen sehen. Bis in die Nacht hinein habe ich alle haltenden Straßenbahnen notiert, aber auf einmal war es der Stille wegen zu spät herunterzugehen, man hörte nur das Meer rauschen und ich mußte auf dem Dach übernach­ten. Weil es, wie im Mittelmeerraum üblich, ein sehr flaches Dach war, war es gefährlich einzuschlafen. Ich konnte die ein- und ausfahrenden Schiffe sehen, die dann am Horizont verschwanden. Es fing an zu nieseln und ich mußte mich immer vorsichtiger bewegen, um nicht herunterzufallen. Als früh morgens Lärm aufkam - denn wir wurden mit viel Gepolter geweckt - habe ich mich mit den Notizen und dem Wecker heruntergeschlichen und bin in der Sanitätsstube unentdeckt angekommen. Jetzt hatten wir ausreichend Informationen. Es war auch kein Mondschein zu erwarten, wir waren startbereit, um unterm Stacheldraht durchzukriechen.
 

Knapp zwei Stunden vor unserem Ausbruch gab mir Marianne ihren Plan bekannt und zeichnete den Weg auf, den ich gehen sollte bis zum jüdischen Friedhof Nummer 2, also entlang der großen Straße bis zum Friedhof. Die Straße war mir von den Ausmärschen zu den Trümmerfeldern bestens bekannt, wenn auch nicht bis zum Friedhof. Den Plan hatte ich jetzt im Kopf und ein Kopftuch in der Hand, das ich später außerhalb des Lagers aufsetzen sollte, um wie eine Russin auszusehen. Als es vollkommen dunkel war, aber gemäß unserem Plan noch Straßenbahnen fuhren, hat sie mich als Erste vorgeschickt, damit ich mit dem Kopftuch fest in der Hand unterm Stacheldraht durchkrieche.


Sie wollte die nächste Straßenbahn abwarten, um nachzukommen. Ich habe mich ohne Schwierigkeiten durchgerobbt. Einmal draußen angekommen, hielt eine Straßenbahn länger als sonst. Die Posten waren abgelenkt, aber Angst und Schrecken überfielen mich erneut und ich ging schnell und wie vorgesehen, mit dem Kopftuch auf dem Kopf, in Richtung Friedhof. Aber als die Straßenbahn vorbeikam, habe ich mich drangehängt, um schneller aus der Reichweite des Lagers zu kommen.

Es war schwer, sich so hängend festzuhalten, jedenfalls bin ich in einem Krankenhaus aufgewacht. Noch ganz benommen habe ich aber erkannt, wo und warum ich dort war. Erstmals seit der zweiten Februarhälfte habe ich die Wahrheit gesagt, aber keiner konnte mich verstehen. Sie haben einen Dolmetscher geholt, der sich meine Wahrheit anhörte und mir sofort sagte, ich solle unbedingt bei Marie Dupont bleiben und folgendes aussagen: Ich sei an dem Tage von der Arbeits­kolonne ausgeschert und bis zu dem Zeitpunkt des Herunter­fallens, also bis tief in die Nacht hinein, auf Straßen­bahnen gefahren. Ich hätte zurück ins Lager gewollt. Er war französischer Feldpfarrer und war rein zufällig auch im Krankenhaus, weil er die den Franzosen in Odessa auferlegte Ausgangsperre nicht beachtet hatte. Sie hätten ihm die Uniform ausgezogen und dann krankenhausreif geschlagen. Er war über den Plan unseres Ausbruchs bestens informiert und auch schon darüber, daß Marianne leider nicht herausgekommen war. Also mußte dieser Fluchtweg unbedingt geheim bleiben, denn Marianne müsse raus und ich wieder rein. Er würde mir jedoch helfen und mich nach Frankreich mitnehmen. Ich hatte nur eine Kopfwunde auf der Stirn, aber der Feldpfarrer, der Deutsch, Ukrainisch und Französisch konnte, hat veranlaßt, daß mir die Haare kurz geschnitten wurden und ich einen großen Verband bekam, Er hat die Ärztin bestochen mit Benzin, Zigaretten und amerikanischem Dosenfleisch. Er hat auch veranlaßt, daß man mich mit ihm zusammen bei ihr zu Besuch in die Privatwohnung der Ärztin mitnimmt. Sie hatte eine Schwester, die noch studierte und es wurde über die Opera, Richelieu und vieles mehr in Russisch gesprochen. Der Feldpfarrer war im Osten Deutschlands für kriegsgefangene Franzosen und ukrainische Zwangsarbeiter zuständig gewesen. Von der Ärztin bekam ich sogar ein Geschenk, einen dicken Wollschal und ein Sommerkleid. Ich durfte ziemlich lange im Krankenhaus bleiben und im Garten des Sanatoriums herumlaufen. Eines Tages kam ein Uniformierter und brachte mich zurück ins Lager.

 Dort wurde ich in einem Raum zwei Tage lang eingesperrt und bekam  nur Wasser durch ein viereckiges Loch gereicht.

Durch dieses Fensterchen hindurch wurde ich mehrmals am Tage angebrüllt und einer brachte mich abends spät zu den mitten im Hof stehenden Latrinen. Es gab keine Matratze, nur die blanken Ziegelsteine auf dem Boden, aber selbst nachts war es noch warm genug, so daß man das überstehen konnte. Unterm Fenster hörte ich das Meer rauschen. Auf einmal bekam ich zu Essen, was meist nur aus Brot bestand und ich mußte morgens sofort mit zur Arbeit gehen. Beim Abklopfen der Ziegelsteine habe ich sofort Schmerzen gespürt, die durch diese Arbeit erstmalig hervorgerufen wurden.

 Wegen der verschärften Politischen Lage durften die Schiffe nicht mehr den Bosporus passieren. Die Franzosen mußten also in Zügen nach Frankreich repatriiert werden. Wir hatten wieder denselben Fluchtplan im Kopf - ich zum Friedhof und Marianne woanders hin, was sie mir nicht verriet - jedesfalls sind wir nacheinander ausgebrochen und außerhalb des Lagers getrennt in die Richtung gelaufen, die jede von uns im Kopf hatte. Es war die Nacht zum 2. zum 3. August 1945 als unser Plan Wirklichkeit wurde.







Nacht 2. /3. August 1945 -

 
Jüdischer Friedhof N° 2 in Odessa

 
Nach diesem zweiten und jetzt geglückten Ausbruch aus dem Lager deutscher Kriegsgefangener in Odessa ging ich, wie mir schon beim ersten mißglückten Ausbruch aufgetragen, auf der Hauptstraße der Stadt am Schwarzen Meer entlang, immer in Richtung jüdischer Friedhof N° 2, bis ich tief in der Nacht endlich am Eingangstor ankam. Beim Durchqueren des Portals überkam mich ein Gefühl unendlicher Verlassenheit. Tief geduckt schlich ich mich in den Friedhof, so als wäre es eine Schande, sich hinter so großen Grabsteinen, wie denen des jüdischen Friedhofs zu verstecken. Ich ging gerade­aus, um das hinter mir liegende Portal nicht aus den Augen zu verlieren, denn ich sollte mich in Sichtweite des Portals hinter einem Grabstein verstecken. Um diese Nachtzeit war die Augusthitze nicht mehr spürbar und ich war in dieser mondlosen Nacht plötzlich mutlos. Als ich auf den Grabstein zuging, habe ich gedacht, es könnten außer mir noch andere Heimatlose hinter Gräbern versteckt sein. Die unheimlich wirkenden Friedhofsgeräusche nahm ich die ganze Nacht lang wahr. Wegen der Nähe der Toten hatte ich keine Hoffnung mehr. Der Gedanke, vergessen zu werden, überkam mich und ich konnte die ganze Nacht über nicht einschlafen. Ich dachte an Marianne und daran, wo sie wohl sein könnte. Ich dachte nicht mehr an die Zukunft nicht mehr an die Heimat, nur noch an das Morgengrauen und daß mich ein Mann in französischer Uniform mit einem Jeep abholen würde, mit dem ich aber kein Wort sprechen sollte. So mutterseelenallein habe ich zum Sternenhimmel hochgeschaut und um Hilfe gefleht. Es roch nach vertrockneten Pflanzen und Blumen, ab und zu gaben Vögel ganz schrille Töne von sich.

 

Sie waren vielleicht die einzigen Zeugen meiner verzweifelten Lage. Mit der Morgen-dämmerung kam erneut Hoffnung auf und ich setzte mein russisches Kopftuch auf, das nachts zwischen meinen Kopf und dem Grabstein als Kissen gedient hatte und ging langsam zum Portal, wo das Warten für mich zur Qual wurde. Der Himmel war wolkenlos, es wurde heller und ich dachte nur an den Mann mit dem Jeep. Dann geschah, was ich erhofft, aber nicht mehr erwartet hatte. Plötzlich hörte ich das Motorgeräusch eines herannahenden Fahrzeuges, ein Jeep gelenkt von einem Franzosen in Uniform mit Käppi, hielt wie versprochen vor dem Portal. Wie mit dem Feldpfarrer vereinbart, stieg ich wortlos ein, ich habe mich sofort instinktiv geduckt, um nicht gesehen zu werden. Der Franzose sprach kein Wort und fuhr weiter. Er sollte bei einer Kontrolle aussagen, daß er ein Mädchen mitgenommen hätte, die wie eine Russin aussah.

 

Dort wo er mich hinfuhr, war das Lager der Franzosen, die eigentlich mit Schiffen übers Schwarze Meer und durch den Bosporus nach Marseille hätten repatriiert werden sollen. Der Franzose kam mit mir genau zu dem Zeitpunkt im Lager an, als seine Kameraden sich marschbereit zur Fahrt zum Bahnhof aufgestellt hatten.

   Ich mußte unter das Bett des Feldpfar­rers kriechen und mein einziges    Kleidungsstück, das von der Ärztin geschenkte, wertvolle Sommerkleid gegen eine Soldatenuniform austauschen. Das war viel schwieriger als  etwa das Durchrobben unter dem Stacheldraht des Lagers. Außer dem Soldaten, der mich mit dem Fahrzeug abgeholt hatte und dem französischen Feldpfarrer, Reverend Charles Maupomé wußte bis dahin vermutlich niemand, daß ich und die Ärztin Marianne in diesem Konvoi heimlich mitfahren sollte.

 

Am Bahnhof Odessa angekommen, ging alles sehr schnell. Vor einem Waggon stand an der einen Seite der Zugtür ein Russe in Uniform, an der anderen der Feldpfarrer, die beide gemeinsam die einsteigenden Franzosen kontrollierten. Ich, die ich ein Käppi auf und eine Uniform anhatte, war endlich auf französischem “Territorium“ und bekam einen Sitzplatz am Fenster. Eine Militärkapelle kam dicht an den Zug heran, spielte die Internationale und die Franzosen sangen das Lied “Plaine ma Plaine“ oder “Komm zurück“ auf französisch.

 

Der Konvoi setzte sich in Bewegung und fuhr westwärts in Richtung Heimat, genau in die Richtung, aus der ich mit anderen, mir unbekannten Franzosen vor mehr als zwei Monaten gekommen war. Etwas später, landeinwärts von Odessa, wurde der Zug in zwei Hälften geteilt und dadurch befand sich Marianne im anderen Zug.

 

In unserem Abteil saßen fünf Franzosen und ich in Uniform und Käppi. Wir kamen diesmal schneller voran als auf der Fahrt nach Odessa, die Infrastruktur war zweieinhalb Monate nach Kriegsende viel besser. Die größte Gefahr, etwa nach Sibirien oder in die Kohlengruben im Ural zu kommen, war für mich zumindest vorübergehend in den Hintergrund getreten. Das schier Unmögliche war gelungen. Der Feldpfarrer hatte mich, eine Deutsche, gerettet. Das Problem, das den Franzosen Kopfzerbrechen bereitete, war, daß die Russen das Recht hatten, den Zug zu kontrollieren. Es war jeweils eine Person zuviel in den beiden Konvois. Wie sollte man uns zwei, Marianne und mich, unsichtbar machen, wenn alle gezählt würden.

 

Wenig später, an einer Bahnstation, geschah etwas Verhängnisvolles, der andere Zug wurde durchsucht. Marianne wurde herausgeholt und über die Gleise weggeschleppt,
wiederholt drehte sie sich um und man sah, wie sie plötzlich die Arme hoch warf und von zwei Russen hinter den dort stehenden Eisenbahnwagen gezerrt wurde. Hilflos stieß sie einen Schrei aus. Tief erschüttert über dieses Ereignis, erkannten wir erst jetzt, wie gefährlich die Lage für uns alle sechs im Abteil war, denn jeder wußte nun, daß sie verstärkt kontrollieren würden, deshalb gab es für mich nur noch eins, bei jedem Halt an einem Bahnhof mußte ich im Holzkoffer des Feldpfarrers verschwinden. Man steckte mich in den großen hölzernen Reisekoffer von Reverend Charles Maupomé, in dem es unerträglich war, länger auszuharren. Immer bestand die Gefahr, daß die Russen sporadische Kontrollen durchführten. Manchmal dauerte das Hocken in dieser großen Kiste eine Unendlichkeit.

 Der Feldpfarrer erkannte deutlich, daß etwas  geschehen mußte, für den Fall, daß sie auch den Koffer durchsuchen sollten. Zu sechst saßen wir und schwiegen.

 Die Männer, die nach ihrer langen Gefangenschaft nur die Heimat im Kopf hatten, waren nachdenklich geworden und überlegten, was zu tun sei. Sie hatten die Lage durchdacht und plötzlich hörte ich wieder die Worte “la Sibérie“ und “l‘Ural“. Die Nervosität der Franzosen steigerte sich, wenn wir uns einem größeren Bahnhof näherten. Ohne den Rest der Gespräche zu verstehen, merkte ich, daß sie sich selbst in Gefahr sahen, weil sie mich mitgenommen hatten. Das war für mich schrecklich der Feldpfarrer sagte dann zu mir “wir müssen dir Französisch beibringen, so daß wir wenigstens sagen können, eine Französin mitgenommen zu haben“. Völlig überrascht wurden sie und ich, als sich beim Durchsuchen des Zuges ein Russe ausgerechnet in unserem Abteil niederließ. Er sprach mit dem Feldpfarrer Russisch und setzte sich auf den Reisekoffer in dem ich fast erstickt wäre. Ich war jetzt im Koffer mit geschlossenem Deckel und konnte nicht einmal mehr rufen. Plötzlich hörte ich wie sich der Russe verabschiedete, denn es war ihnen gelungen ihn aus dem Abteil zu locken.



Das Französisch, das man mir beibrachte, war hauptsächlich auf meine Situation abgestimmt und es mußte für den Ernstfall ständig wiederholt werden. Jedes Anhalten des Zuges bedeutete für uns alle eine große Gefahr. Wir kamen aber schnell voran. Immer herrschte heillose Verwirrung auf den Bahnhöfen, überall Menschen in und auf den Zügen. Die Grenze der UdSSR hatten wir längst hinter uns gelassen und Gesprächsthema war ständig die Curzon-Linie. Durch Polen fuhren wir wieder an den gleichen Ortschaften und Bahnstationen, an verbrannter Erde, verwahrlosten Äckern und Wiesen vorbei. Bei Einbruch der Dunkelheit und abflauender Augusthitze wollte jeder endlich einmal liegend schlafen. Es hatte aber immer nur jeweils einer im Gepäcknetz Platz. Also auf jeder Seite einer, so daß immer nur zwei gleichzeitig schlafen konnten. Von Odessa bis Straßburg mußten wir einen Monat lang sitzend ausharren. Die Züge, die an uns vorüberrollten fuhren immer Richtung Osten.

 

Am 6. August wurde der Abwurf der Atombombe über Hiroshima bekannt und drei Tage später der Abwurf der zweiten über Nagasaki. Es war lange Zeit eine gedrückte Stimmung nach Bekanntgabe und Besprechen dieser Nachricht. Auch wurde die Kriegserklärung der UdSSR an Japan durchgesprochen. Die Franzosen waren seit ihrer Kriegsgefangenschaft ständig isoliert gewesen. Auch zu diesem Zeitpunkt waren sie noch nicht voll informiert. Eines Tages, bei Abenddämmerung, fuhren wir auf einmal durch das verwüstete oberschlesische Industriegebiet. Alles sah jetzt so fremd aus, später sind wir dann kurz vor Breslau, also mitten in Schlesien und nicht weit von meinem Heimatdorf, aufgewacht.

 

 

Fahrt durch Schlesien ab Breslau - 2. Augusthälfte 1945

 

Je näher wir meiner Heimat in der Mitte Schlesiens kommen, desto mehr schwindet die Hoffnung, meine 8O-jährige Groß­mutter noch einmal wiederzusehen, die vor genau sechs Monaten geschrien hatte “Komm zurück“. Tag und Nacht habe ich über ein Zurückkommen nachgedacht und jetzt ist mein Heimatdorf greifbar nah. “Du steigst aus, wenn wir mitten durch Schlesien fahren, du fährst nicht an deiner Heimat vorüber,“ hatte der Feldfparrer noch fünf Tage zuvor, während der Fahrt durch das zerstörte Polen, gesagt.

 

Aber vom Zugfenster aus, aus dem wir uns nicht nur der Hitze wegen lehnen, müssen wir zurückweichen, weil Breslaus rauchgeschwärzten Gebäudeskelette uns wie Gespenster bedrohen. Kurz vor Maltsch/Oder müssen wir wieder einmal unsere Lokomotive ausleihen und erneut warten, nachdem wir seit Odessa nun schon mehr als drei Wochen sitzend im Zug verbracht haben. Hier sind es bis zu meinem Heimatdorf nur 20 km, aber wie sollte ich in französischer Soldatenuniform diese Strecke zurücklegen und was sollten die anderen im Zug sitzenden Franzosen dazu sagen, welcher ehemalige Kriegsgefangene steigt in einem von der Soldateska verwüsteten Feindesland aus? Der Reverend Maupomé disku­tierte heftig mit den anderen vier Franzosen und übersetzte schließlich, daß er und die vier Anderen sich schließlich der Gefahr ausgesetzt hätten nach Sibirien zu kommen. Des weiteren meinte er, daß es vielleicht jenen in den Lagern in der UdSSR besser gehen könnte als denen, die hier als Zivilbevölkerung leben müßten. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Meine Heimat war wie ausgestorben. Wir fahren jetzt an unbestellten Feldern und verlassenen Dörfern vorbei, mitten durch die Kornkammer Deutschlands. Der Repatriierungskonvoi kommt nur langsam Richtung Westen voran und rings um die vielen kleinen Bauerndörfer, wo sonst zu dieser Jahreszeit noch ungeerntete Weizenfelder neben braunen Ackerfurchen und dunklen Rübenäckern standen, sind nicht einmal Stoppelfelder zu sehen. Auf dieser Gegend liegt in der Augusthitze des Jahres 1945 so etwas wie ein Fluch.


Dann geht die Fahrt weiter Richtung Sagan - Sommerfeld, vorbei an der mir bekannten Landschaft, die links und rechts der Eisenbahnstrecke Maltsch - Liegnitz liegt, überall grauenvolle Leere und dann und wann ein Hund vor einem scheinbar verlassenen Gehöft. Wir fahren langsam vorüber an von Panzern niedergewalzten Zäunen, Bäumen und ausgeplünder­ten Häusern, aus denen Matratzen aus dem Fenster heraushängen. Diese Gegend sollte genau vor einem Jahr durch uns 14 und l5jährige durch Panzergrabenschachten gerettet werden. Da Schulbesuch reiner Luxus ist und die Invasion in der Normandie im Gange sei, so hieß es, werdet ihr gemustert und an die deutsch-polnische Grenze geschickt, wo dann im Herbst 1944 russische Tiefflieger unsere Lagerbaracken längst ausgemacht hatten und wir oftmals die Nacht geduckt in Kartoffelfurchen verbringen mußten. Alles war umsonst gewesen.

In der sengenden Sonne fahren wir jetzt, ein Jahr danach, langsam auf dem noch intakten Schienenstrang mitten durch das wälderrauschende schlesische Land Richtung Berlin.

 

 

Links von uns sind die Konturen des Riesengebirges ganz schwach erkennbar. Um in mein Heimatdorf zu kommen, müßte ich spä­testens jetzt aussteigen und trotzdem sehr weit zurücklau­fen. Aber wer läuft schon freiwillig ins Ungewisse. Vor Liegnitz stehen Güterwagen vollgepackt mit Maschinen. Unser Zug hält erneut, es ist ein stundenlanges Warten in einem von der Heimat zum Ausland gewordenen Land, bis endlich ein Offizier der Roten Armee erscheint und grünes Licht zur Weiterfahrt gibt. Ganz in der Nähe stehen Güterwagen mit Mädchen meines Alters, deren Fahrt geht in Richtung Osten und sie können nicht ahnen, daß sie Opfer jenes Geheimproto­kolls der Konferenz von Jalta geworden sind, in dem die Siegermächte sich das Recht einräumten, Zivilpersonen zu Reparationsdiensten zwangszuverpflichten. Aus einem direkt neben unserem Zug stehenden Viehwaggon dringt in der Augusthitze bestialischer Gestank. Die russischen Bewacher sind in einem Personenwaggon mit verdreckten Fensterscheiben untergebracht, auch wir fürchten uns vor ihnen. Drei Tage lang schleichen wir ganz langsam durch Niederschlesien, immer westwärts, aber dann werden kurz vor Sagan Befehle auf Russisch hörbar und wir bekommen einen russischen Zugbeglei­ter. Die fünf Franzosen und ich, die seit drei Wochen immer nur an Weiterfahren denken, schauen ängstlich aus dem Zugfenster, weil beim Zählen ein Soldat zuviel gewesen wäre. In Sagan angekommen, wird unsere Lokomotive vom Kopf des Zuges weggenommen und ans Zugende gesetzt und wieder geht es auf dem selben Schienenstrang zurück Richtung Osten und erneut denke ich an Aussteigen. Der Richtung wegen fluchen die Franzosen erneut und es erklingt kein Lied mehr.

Auf einsamer Strecke, kurz vor Liegnitz fährt eine russische Militärkapelle vor. Sie spielt und die Franzosen singen die Internationale, vergessen ist die Richtung, denn die schlesischen Stalags wird es nicht mehr geben. Es wird lange verhandelt und herumgebrüllt und schließlich rollt der Zug wieder westwärts über die Görlitzer Neiße.

 

Meine schlesische Heimat liegt Jetzt hinter mir und es fällt schwer die Fahrt weiterzuverfolgen. Die physische ebenso wie die psychische Belastung und der Verlust von Familie und Heimat, bewirken, daß ich stundenlang nichts mehr wahrnehmen kann. Aber auf einmal fahren wir entlang der friedlich dahinfließenden Moldau und kommen in Prag an. Erstmals denke ich, daß wirklich Frieden ist. Wir fahren von Prag über Bratislava, das frühere Preßburg, über Wien Richtung Heimat der Franzosen, doch überall wo wir durchfahren, ist russisches Militär zu sehen. Nirgends darf ich aussteigen, denn die Gefahr ist nicht vorüber, wohin wir auch fahren. Der Zug fährt jetzt unter Volldampf durch Österreich und Süddeutschland und die Szenen auf den deutschen Bahnsteigen, erinnern an die bedingungslose Kapitulation Deutschlands. Ein Franzose im Abteil sagt “Diese blonden Hitlerinnen müssen jetzt auf den Strich gehen, sie müssen kämpfen, um an die Fleischtöpfe zu kommen“. “Das gehört zum Niedergang des Dritten Reiches“ ergänzt ein Anderer. Wir überqueren den Rhein und fahren im Bahnhof von Straßburg ein, wo die Franzosen in ihre jeweiligen Heimatorte entlassen werden.

 
Am 1. September 1945, also genau einen Monat nach meiner auf dem Friedhof in Odessa verbrachten Nacht, ist es das erste Mal, daß wir auf Matratzen schlafen. Der Reverend, Charles Maupomé, erklärt mir, daß er mir nicht mehr helfen kann, denn er müßte sonst um sein Priesteramt bangen, wenn sich herausstellen sollte, daß er auf diese Weise einer Deutschen hilft. Er hat mir an diesem ersten Tage in Frankreich sofort Rock, Bluse und eine Jacke organisiert und mir einen Brief in die Hand gedrückt, den ich in Paris beim Roten Kreuz abgeben sollte. Den Inhalt kannte ich nicht, ich hätte ihn auch nicht lesen können. Er ging mit mir zum Zug und drückte mir einen Fahrschein in die Hand. Dann haben wir uns verabschiedet.

 

Am 2. September 1945 bin ich am Ostbahnhof in Paris ausges­tiegen und wie versprochen zum Roten Kreuz gegangen, das ganz in der Nähe des Ostbahnhofs war und heute noch dort ist. Beim Roten Kreuz kam ich in einem völlig überfüllten Raum an, wo viele Menschen auf Stühlen saßen und die meisten auf dem Boden hockten. Einige junge Frauen hatten die Hände hinten auf Stuhllehnen gefesselt und es wurden ihnen die Haare abgeschnitten und einer sogar ein Stück vom Ohr. Es handelte sich um Französinnen, die mit den Deutschen kollaboriert hatten. Bei diesem Anblick habe ich den Brief in kleine Teile zerpflückt und sie heimlich verschwinden lassen. Als ich endlich drankam, habe ich das aufgesagt, was ich im Konvoi von Odessa u.a. ständig gelernt hatte, und zwar “Ich heiße Marie Dupont, ich komme aus Straßburg“ was zu diesem Zeitpunkt sogar stimmte und erklärt “Ich habe meine Eltern verloren“.

 

Der Mann hinter dem Schreibtisch notierte und deutete an, daß ich warten solle. Viele andere mußten wie ich bis gegen Abend warten und dann in ein Polizeiauto einsteigen. Da mich das Vergitterte an dem Polizeiauto abschreckte, wollte ich nicht einsteigen. Ein Flic sagte, hier in Übersetzung wieder­gegeben, “Um dich wird sich kümmern der Procureur de la Republique“. Da ich nicht wußte, daß “Procureur de la Republique“ Staatsanwalt heißt, dachte ich, daß sich der Ranghöchste der Republik um mich kümmern würde, denn unterwegs im Zug hatte man mir unter anderem auch die reflexiven Verben, wie “sich kümmern“ eingepaukt. Sätze wie “Um mich wird sich kümmern der der Reverend Maupomé“ wurden auf der Fahrt gezielt eingeübt für den Fall, daß ich in Frankreich verlorengehen sollte. Für mich stand fest, daß ich für all die Strapazen belohnt würde, so daß ich eine ganze Nacht in der Untersuchungszelle ruhig schlafend verbracht habe. Am folgenden Tag brachte man mich in die Assistance Publique, eine Einrichtung in Paris, die aus mehreren Gebäudeflügeln besteht und als soziale Auffangstelle noch heute existiert. Außer den vielen gleichaltrigen Mädchen habe ich die in Reihe und Glied stehenden Betten erblickt. Es war wie im Paradies, lauter eiserne Bettgestelle mit weißen Klöppelspitzendecken.

Als ich erwachte dachte ich auf Französisch, und zwar immer dasselbe „De moi va s`occuper le Procureur de la République“.

Ich war davon überzeugt, daß sich einer um mich kümmern würde, weshalb ich mich zusammen mit anderen Mädchen an einem Schalter anstellte, um zu reklamieren. Die reklamier­ten allerdings etwas ganz anderes, sie wollten keine “bromure“ im Essen haben. Ich dagegen habe meinen Satz in perfektem Französisch mehrmals täglich vor diesem Schalter wiederholt, und zwar solange, bis ich in ein viel kleineres Mädchenheim weggebracht wurde. Dort bin ich nicht lange geblieben, denn ich kann mich nur daran erinnern, daß es in Issy-Les-Moulineaux, südlich von Paris, war und wir abends um acht schlafen mußten und die Erzieherin an jedes einzelne Bett herantrat, um jeder von uns einen Gute-Nacht-Kuß zu geben. Ich habe mich immer schlafend gestellt, weil ich dachte, falls sie entdeckt, daß sie einen “boche“ küßt, alles schrecklich enden könnte, bevor der Procureur de la République sich meiner annehmen könnte. Ich war aber voller Zuversicht und habe auch dort denselben Satz ständig wiederholt.

 
Nach einem kurzen Aufenthalt in diesem Heim kam ich in eine Villa, Rue Carnot in der Nähe des Chateau de Vincennes. Diese schöne Villa gehörte einer wohlhabenden Dame namens Gardeau, die ihr Haus für humanitäre Zwecke zur Verfügung gestellt hatte, und zwar speziell für Mädchen, die im Krieg einen Elternteil verloren hatten, wo als Schirmherr, Monsieur Georges Bidault (führender französischer Politiker der ersten Stunde der IV Republik) zuständig war. Es waren schon fünf Mädchen bei Madame Paquot untergebracht, ich war die Sechste und kam mit einem Mädchen namens Sylvie in einer Dachkammer unter. Sie hat nur gesprochen und einmal habe ich sogar das Wort “métaphysique“ vernommen. In der Zwischenzeit hatte ich gelernt zu antworten, und zwar “oh ja, das gefällt mir, das denk ich auch, das ist richtig usw. . .“. Nie habe ich etwas unterschreiben müssen nie hat mich jemand gefragt, wer ich eigentlich bin. Was mich sehr beunruhigte, war, daß ich nichts vom Procureur de la République hörte. Ich hatte inzwischen begriffen, daß sich kein so Hochrangiger um mich kümmern würde. Es war jetzt einerseits zu spät um alles zu erklären und andererseits zu früh alles preiszugeben, denn auf Französisch hätte ich zu diesem Zeitpunkt meinen Fall nicht darstellen können. Selbst mit perfekten Französisch - Kenntnissen wäre es nicht möglich gewesen. Madame Gardeau hatte einen Nachbarn, der Fenaillon hieß und Algerien-Franzose war. Er bewohnte die Nachbarvilla und kümmerte sich um die alleinstehende Madame Gardeau, er schnüffelte überall herum und ich dachte, er beobachtet nur mich. Es war Weihnachten 1945 und wir alle Sechs wurden reichlich beschenkt, ja sogar feinstens ausgestattet mit

Mantel, Kostüm, Nachthemden und fast allem, was ein Mädchen benötigt. Jede von uns bekam auch einen Koffer. Für mich war es nach dem schreckljchen Jahr 1945 wie im Paradies und nur Monsieur Fenaillon stellte für mich eine Bedrohung dar. Aber ich war ja auch nicht fähig alles zu erklären, und was hätte man wohl mit mir gemacht?

Ende Januar 1946 bis Herbst 1947

Ende Januar kamen wir weg und bekamen eine Erzieherin und ich außer Reichweite des Monsieur Fenaillon. Die Erzieherin zog mit uns in die Banlieu von Paris, in ein altes, etwas heruntergekommenes Schloß. Es gab einen Park mit Sportplatz, eine Nähstube und eine Küche, vor allem war sie eine großartige Erzieherin. Sie wollte, daß jede von uns an ihre Familie schreibt. Da ich als

Marie Dupont keine hatte und schließlich doch den Reverend als Onkel angab, mußte ich ihm schreiben, obwohl ich eigentlich nur sprechen konnte. Alle regten sich darüber auf, daß ein Pfarrer sich unter diesen Umständen einer so armseligen Verwandten nicht annahm.

Wir fuhren immer mit dem Vorortzug nach Paris ins Kino. Es war kostenlos, sogar im Rex, wo es den Sternenhimmel mit Mond und Sternschnuppen auch heute noch gibt. Wir durften nur dort sitzen, wo nachmittags viele Plätze leer waren. Vor dem eigentlichen Spielfilm gab es die Wochenschau, die nur ein Thema hatte, nämlich das des Niedergangs des Dritten Reiches

Sylvie und die anderen Mädchen nahmen mich in die

Mitte und immer sagten sie, diese bösen “boches“, die Schweine, die haben Deine Eltern auf dem Gewissen. Es war schrecklich, die Wochenschau anzusehen und gleichzeitig getröstet zu werden. Ständig wurde wiederholt “Deutschland im Jahre Null“. Ich habe alles versucht und oft in der Enzyklopädie geblättert, um Französisch schreiben zu lernen, aber ohne Grundkenntnisse der Grammatik ging es nicht, so daß ich nur rapide Fortschritte im Sprechen machte. Die Erzieherin Janick sagte, daß ich dem Pfarreronkel in den Pyrenäen doch ein Paar Socken stricken sollte, weil es besser wäre, wenn ich wenigstens einen von der Familie hätte, die habe ich sogar mit einem Edelweis drauf gestrickt. In der Zwischenzeit hatte ich Nähen, Stricken und Handballspielen gelernt.

 
Im Frühsommer 46 hat uns unsere Erzieherin eröffnet, daß wir in eine Ferienkolonie gehen durften. Wir konnten abstimmen zwischen dem Meer und den Bergen. Wir Sechs hatten uns mehrheitlich für die Berge entschieden und kamen in ein Bergdorf an der Schweizer Grenze, in das Tal von Chamonix. An regenfreien Tagen haben wir immer Bergtouren gemacht und oben auf der Alm angekom­men, Lieder gesungen. Bei Regenwetter las sie uns aus Büchern vor oder wir mußten Theater spielen. Im September 46 waren wir immer noch in den Bergen, weil wir im Pariser Raum keine Unterkunft mehr hatten, also blieben wir länger. Länger wurden auch die Schatten im Tal von Chamonix und wir mußten Winterpullover stricken. Davon habe ich Wolle abgezweigt und auch wieder für den Feldpfarrer gestrickt.

 

Auf einmal kam sie auf die Idee und wir mußten Aufsätze schreiben. Sie war erschrocken, als sie meinen sah und war völlig durcheinander, weil bei meiner Schreibweise die Sütterlinschrift durchschimmerte. Meine Briefe an den Feldpfarrer hatte sie also nicht geöffnet. Sie fragte mich, ob ich Deutsche sein könnte und als sie hörte, daß es so sei und erfuhr was mit mir los war, sagte sie, daß dies keines­falls etwas an dem Verhältnis zu mir ändern würde, daß sie aber ratlos wäre und sie mir in Zukunft trotzdem helfen würde.

 

Sie bat mich, meine Identität auch weiterhin zu verschweigen, denn wenn das herauskäme, alle Beteiligten in einen Skandal verwickelt würden. Ihr Bruder kam als Aufsichtsperson zu uns und sie fuhr nach Paris, um Rat bei ihrem Bekannten, einem Juristen, zu holen.

 

Sie kam zurück, wußte aber nicht, wie sie das Problem lösen sollte. Er hätte angeregt, daß ich einfach verschwinden solle. Sie stellte mir in Aussicht, eine Stelle als “bonne à tout faire“ (Mädchen für Alles) in Paris bei ihren Verwand­ten zu suchen, was aber erst sechs Monate später gelang. Nach mehr als anderthalb Jahren Marie Dupont kam ich nach Paris zu den Verwandten der Erzieherin Janick. Die hatten einen gleichaltrigen Sohn, der kurz vor dem Abitur stand. Ich konnte nicht ertragen, daß er zur höheren Schule ging und ich so niedere Dienstleistungen verrichten mußte, weshalb ich das erste Geld genommen habe und vom Ostbahnhof aus - mit gültigem Fahrschein - Richtung Deutschland gefah­ren bin, obwohl ich wußte, daß man ohne Papiere nicht über die Grenze kommt. An der Grenze hieß es “Ihre Papiere“, meine Antwort “keine Papiere“. Ich kam ins Gefängnis in Thionville (Diedenhofen), wo ich einen Monat mit zwei Diebinnen in einer Zelle verbringen mußte. Bei der Entlassung bekam ich einen Zettel in die Hand, der mir für die paar Kilometer bis zur Grenze Freifahrt garantierte.

 
Einmal über die Grenze abgeschoben, war ich nicht in Deutschland, sondern im Dreiländereck, die Saar gehörte seinerzeit noch zu Frankreich, wo ich erneut Papiere vorzeigen sollte. Da ich keine hatte, kam ich in ein Haus mit Gittern, in dem sich schon ein paar Herren aufhielten, die den Anzügen nach vermutlich Geschäftsleute waren. Einer kam auf die Idee, daß wenigstens ich ausbrechen sollte, da ich schlank genug war und durch die Gitterstäbe paßte. Sie reichten mir auch den Koffer nach, das Weihnachtsgeschenk von Madame Gardeau. Per Anhalter bin ich dann nach Trier gefahren, wo ich abends nicht wußte wohin und auch kein Geld hatte. Auf einem Straßenstein sitzend hat mich ein Mann angesprochen, der mich fragte, warum ich dort saß. Er nahm mich mit in einen Luftschutzraum, wo viele Betten standen und es wurde beraten, was zu tun sei. Er hatte einen Sohn, der mir sofort eine Stelle bei einem Bauern in Merzig besorgte.