Helmut Berger

Helmut Berger Bericht über die Zeit vom Januar 1945 bis Januar 1958 in Wüstewaltersdorf Aus der Sicht des Schreibers, Helmut Berger, früher Wüstewaltersdorf, Kreis Waldenburg, Seylergasse 2 a und Waldenburger Straße 32 a. Einleitung Dieser Zeitraum ist für uns und alle Wüstewaltersdorfer die schicksalsschwerste Zeit des Lebens, beginnend mit Flucht und Vertreibung mit den Folgen von Verlust der Heimat, Verlust von Hab und Gut, der sozialen und kulturellen Bindung sowie der heimatlichen Sprache -des schlesischen Dialekts. Natürlich waren davon alle Schlesier und Bewohner ostdeutscher Provinzen, das Sudetenland und die deutschen Siedlungsgebiete Südosteuropas betroffen. Zum engsten Raum um Wüstewaltersdorf gehörten die Ortsteile und Gemeinden: Dorfbach, Schlesisch-Falkenberg, Zedlitzheide, Friedrichsberg, Grund, Neugericht, Hausdorf, Jauernig, Toschendorf, Heinrichau, Friedersdorf und das Euledörfel. Wüstewaltersdorf war der größte Ort und zugleich der wirtschaftliche und kulturelle Mittelpunkt. In diesem Bericht wird es sicherlich nicht ganz gelingen einen genauen chronologischen Ablauf zu verfassen. Es wird dadurch immer wieder zu Einflechtungen kommen. Für unsere Kinder, Enkel und Nachkommen ist es wichtig, daß diese Geschehnisse festgehalten werden, wo ihre Eltern, Großeltern und Vorfahren herstammen und was sie erlebt haben. Denn mit dem Ende des Krieges stand nicht nur die Niederlage der Deutschen Armeen, sondern auch die Zerstörung fast aller deutschen Städte, die Vertreibung von ca. 15 Millionen Menschen aus ihrer seit Jahrhunderten angestammten Heimat mit - etwas drei Millionen Vertreibungstoten - und all ihren Folgen, die bis heute andauern. Heute enthüllt die Geschichte, daß es eben nicht nur ein Krieg gegen das Hitler-Regime war, sondern auch gegen das gesamte Deutsche Volk (Beweise sind die Zerstörung Dresdens und die Vertreibung der gesamten ostdeutschen Bevölkerung etc. und der Raub dieses ostdeutschen Landes). Bericht Am 28.12.1936 wurde ich in der Entbindungsstation in Waldenburg geboren und wuchs in Wüstewaltersdorf auf. Meine Mutter stammte aus einer Handwerker- und Bauernfamilie aus Loswitz (später Höhndorf), Kreis Ottmachau. Mein Vater stammte aus Wüstewaltersdorf. Sein Vater war Schneidermeister in Wüstewaltersdorf. Aufgewachsen ist mein Vater allerdings bei seinem Onkel, dem Bäckermeister Wilhelm John, aus Wüstewalterdorf. Hier erlernte auch er das Bäckerhandwerk und legte am 27. November 1935 in Breslau die Meisterprüfung im Bäckerhandwerk ab. Ich ging in Zedlitzheide, einem Ortsteil von Wüstewaltersdorf, in die Schule, die ich aber nur eineinhalb Jahre besuchen konnte, denn dann kam der Zusammenbruch und mit ihm das Ende des öffentlichen und kulturellen Lebens in Wüstewaltersdorf. Wir wohnten in der Nähe des Gasthauses "Deutsches Haus" auf der schmalen Seite beim Seylerschen Waisenhaus in der Seylergasse 2 a, gegenüber von Bauer Martin, auf dessen Hof wir Kinder ein- und ausgingen. In unserem Haus wohnten 12 Familien. Es waren im Hauseingang 2 a: Hanke, Berger, Neumann, Spielmann, Vogel, Bergmann und im Hauseingang 2 b: Schneider, Tischler, Böhm, Werner, Blümel und Hanke. Die Kinder und Jugendlichen im Haus 2 a waren: Erika, Lieselotte und Helmut Berger, Horst und Heinz Neumann, Else und Horst Vogel, Dora und Knuth Bergmann. Haus 2 b: Wolfgang Tischler, Hans Böhm und Christa Werner. Wir durften, wenn wir frühmorgens zeitig aufstanden, mit Daniel, dem Knecht (französischer Kriegsgefangener), auf das Feld fahren, um Gras für die Kühe zu holen. Daniel hatte in diesem Rahmen volle Freiheiten und es ging ihm bei Martins gut. Im Sommer saßen wir dann oft auf dem Heuwagen, wenn die Heuernte eingefahren wurde. Wir hatten aber auch Streiche angestellt, die sich oft so ergaben. Es war noch eine Zeit glücklicher Kindheit, obwohl der Niedergang Deutschlands schon in greifbarer Nähe lag. Was wir Kinder ja Gott sei Dank nicht wußten. Wer die örtlichen Verhältnisse kennt, weiß, wie weit wir zur Schule gehen mußten. Unsere Schule war in Zedlitzheide unterhalb des auf einer Anhöhe liegenden Sportplatzes. Der Weg vom Elternhaus zur Schule war ca. 2 km lang. Es war natürlich selbstverständlich, daß wir zu Fuß gingen und es hatte uns auch nicht geschadet. Nun nahte also das Kriegsende. - Ab dieser Zeit möchte ich ja eigentlich berichten. - Die russischen Soldaten standen kurz vor unserem Dorf. Unsere Nachbarin, Frau Hanke, die erst seit kurzem verheiratet war und deren Mann in Frankreich als Soldat eingezogen war, hatte den Keller voller Weine. Was nun machen, damit diese nicht in die Hände der Russen fielen. Viele unserer Mitbewohner im Haus waren aus Angst vor den Russen in die Wälder geflohen, um sich zu verstecken oder waren zu Verwandten gegangen, um in diesen Schicksalsstunden nicht alleine zu sein. Denn die meisten Männer waren ja bei den Soldaten. Mein Vater, der schon im 1. Weltkrieg eingezogen wurde und nur das erste Kriegsjahr im 2. Weltkrieg an der Front war, sagte: „Wir bleiben hier, denn sterben können wir auch zu Hause". Die Russen waren also schon sehr nahe. Die sich in Richtung Tschechei zurückziehende Wehrmacht war noch in einzelne Gefechte verwickelt. Nun blieb nicht mehr viel Zeit, den vorher genannten Keller mit den Weinen zu entsorgen. Im letzten Moment mußten mein Vater und Herr Schneider den Flaschen die Flaschenhälse abschlagen, denn mehr Zeit blieb nicht um den Wein nicht in die Hände der Russen fallen zu lassen. Nachher mußte alles durchlüftet werden - was Stunden dauerte -, da das gesamte Haus nach Alkohol roch. So wurde in letzter Minute verhindert, daß der Wein in falsche Hände gelangen konnte. Dann kam die Stunde des 8. Mai 1945, in der das russische Militär den Ort besetzte. Meine Mutter, meine jüngere Schwester und ich saßen im Wohnzimmer auf dem Chaiselong. Meine ältere Schwester Erika, die schon 15 Jahre alt war, versteckten wir unter dem Chaiselong. Auf demselbigen saßen wir, die Decke zur Tarnung weit runtergezogen. Meine Mutter, die zu dieser Zeit ja auch erst 42 Jahre alt war, hatte sich verkleidet, damit sie alt wirkte. Mein Vater lief nervös in der Stube auf und ab. So warteten wir in Angst auf das, was uns erwarten würde. Den Schlüssel, so sagte mein Vater, lassen wir in der Korridortür stecken, damit sie uns nicht die Tür einschlagen. Es dauerte nicht mehr lange und die Tür ging auf und die ersten russischen Soldaten standen vor uns. Sie kamen aus eigener Sicherheit immer in kleinen Gruppen. Man sah ihnen die Verwunderung, ja fast Erschrockenheit an, als sie die ganze Familie im Wohnzimmer harrend vorfanden. Die erste Frage war „Uhr" (oder wie sie sagten „Uhri"). Mein Vater sagte:"Nix Uhr". In der Aufregung hatte mein Vater aber vergessen, seine Taschenuhr abzunehmen. Der Russe, der nach der Uhr fragte, sah dann diese und mein Vater mußte diese hergeben. Aber das war alles hinzunehmen, wenn wir nur heil davon kommen würden. Als der 1. Trupp weg war, ging mein Vater durch die Wohnung um zu sehen, was sich noch alles in der Wohnung getan hatte. Die erste Nachricht war: meine Anzüge sind weg. Und so stellten wir später fest, daß nach weiteren russischen Trupps vieles nicht mehr da war, aber das war zu verschmerzen. Verwüstet jedoch wurde nichts. So waren wir dann allerdings heilfroh, als der 1. Tag des Ansturms vorüber war. Ein paar Tage später wurden dann, in der Wohnung Hanke nebenan, russische Offiziere einquartiert. Dies war wahrscheinlich unser Glück im Unglück, denn dadurch blieben wir von den russischen Soldaten unbehelligt. Teile der Mannschaften lagerten bei Martins auf dem Bauernhof. Hier standen überall Pferdewagen voll beladen herum. Auf dem Hofe der Martins wurden auch Schweine geschlachtet und sonstiger Proviant zusammengestellt. Wir Kinder getrauten uns dann schon nach ein paar Tagen wieder auf den Hof. Wir hatten auch Glück, die Soldaten waren gut zu uns und gaben uns Brot mit gebratenem Schweinefleisch belegt und Würfelzucker. Als nun die 1. Russische Vorhut (die kämpfende Truppe) weiterzog, war dann von einer weniger disziplinierten Nachhut die Rede. So hieß es eines Tages, die Mongolen kommen. Damit waren die asiatischen Einheiten der russischen Armee gemeint. Die ließen nichts Gutes ahnen. So hatte auch mein Vater keinen Mut mehr zu bleiben und wir flüchteten alle, die noch im Haus waren (ich glaube mit uns waren es noch zwei Familien), über den Martinberg zur Willnerkoppe und versteckten uns in den dortigen Felsen. Meine 86-jährige Oma (Richter) mütterlicherseits, die seit Ende 1944 bei uns wohnte, lief wie ein junges Mädchen über den steilen Martinberg. Sie stammte aus der Gegend von Ottmachau und war schon rechtzeitig vor der anrückenden Roten Armee zu uns geflüchtet. Woher die Nachricht über die Mongolen stammte ist bis heute noch unbekannt. Im Laufe des Tages jedenfalls begab sich ein Spähtrupp von zwei Männern auf den Weg in Richtung Dorf um zu schauen, was los ist. Sie kamen dann mit der Nachricht zurück, daß ein Trupp asiatisch aussehender Soldaten durchs Dorf marschiert ist, die aber nicht angehalten haben. Zumindest nicht im Bereich des Mitteldorfes. So wurde die Gefahr abgeblasen und wir kehrten in unsere Wohnungen zurück. Ob dann gleich nachfolgend polnisches Militär oder Milizen ins Dorf kamen, weiß ich nicht mehr genau zu berichten. Nur eins sehe ich noch bildlich vor mir, als die ersten polnischen Zivilisten ins Dorf kamen. Gleich 1945, den Monat kann ich nicht angeben. Vor unseren Fenstern zogen einige Personen vorbei, bepackt mit Bündeln, ohne es abwerten zu wollen, wie „Zigeuner" und zogen beim Bauer Martin ein. Ab diesem Moment waren Martins nur noch geduldet und hatten auf ihrem eigenen Hof nichts mehr zu sagen. Nun begannen die ersten Evakuierungen. Wir wurden aus unserer Wohnung geworfen, das war 1946, und mußten in das Beamtenhaus, neben Dr. Bösenberg, in eine leerstehende Wohnung einziehen, in der die Lehrerin, Frau Flor, gewohnt hatte, die aber schon aus der Wohnung vertrieben war. Die Möbel konnten wir mitnehmen, was aber den Polen gefiel, mußten wir stehen lassen. So mußte mein Vater sogar noch helfen, unsere Spiegeltoilette, mit einem Mittelspiegel und zwei seitlich klappbaren Seitenspiegeln - was damals modern war - aus unserem Schlafzimmer dem Polen in die über uns in besitzgenommene Wohnung zu tragen. Nun lebten wir in der Waldenburger Straße 32 a. Von dieser Wohnung, dessen Wohnräume zur Hauptstraße zeigten, mußten wir mit ansehen, wie unsere Dorfbewohner, Freunde und Verwandte in Trecks vorbeizogen. Unter Strafandrohung durften wir in dieser Zeit die Wohnungen nicht verlassen, und so konnten wir nicht einmal von Verwandten und Freunden Abschied nehmen. Später erging es uns selber so. Wir mußten binnen kürzester Zeit aus der Wohnung raus. Durch das Vorangegangene etwas vorbereitet, beluden wir unseren Leiterwagen mit den wichtigsten Sachen und fuhren mit dem Wagen, mit uns drei Kindern und Oma zum „Hacketeich", wo der Treck zusammengestellt wurde. Unterwegs aber, etwa auf Höhe der katholischen Kirche St. Barbara, kamen ein kompetenter Pole der Firma Websky und Herr Wollbrand, der damals Abteilungsleiter der Kaliko war, und erklärten meinem Vater, er würde als Fachmeister in der Kaliko gebraucht und müsse wieder zurück. So konnten wir umkehren. Wir bekamen eine grüne Karte (Bescheinigung) mit amtlichem Stempel, die wir, als wir wieder zu Hause ankamen, an die Korridortür heften mußten. Von nun an blieben wir von den Rausschmeißern - wie wir sagten - verschont. Wir waren alle froh und mein Vater sagte immer, was sollen wir in dem zerbombten Westen und außerdem kommen unsere Leute ja doch bald wieder! Ich hatte einen Spielfreund bei dem polnische Milizen einquartiert waren. Er sagte mir, wir waren ja noch Kinder, die Polen bleiben fünf Jahre hier, da habe ich ihn ausgelacht und gesagt, wie es unter Kindern üblich ist, „Du bist verrückt, 5 Jahre, daß glaubste ja selber nicht". Wir konnten es uns nicht vorstellen, daß die Polen so lange bleiben sollten. Aber von da an mußten wir uns auf eine lange Zeit mit den Polen einrichten, die nach und nach in das Dorf kamen und die nun leerstehenden Häuser und Wohnungen besetzten. Natürlich wurden zuerst nur die besten Häuser und Wohnungen beschlagnahmt. Es kam für uns eine Zeit, in der wir einiges durchmachen mußten. Wir waren zwar zu Hause in unserer Wohnung, aber die meisten Dorfbewohner waren schon evakuiert. Unser Alltag sah nun folgendermaßen aus: Mein Vater ging weiterhin zu Arbeit in die Kaliko - ein Werksteil der Firma Websky, Hartmann und Wiesen im Ortsteil Zedlitzheide. Am Anfang gab es dafür nur Lebensmittel und ab und zu konnten wir etwas Suppe (Eintopf) aus der Fabrikküche holen, und „Schmalhans war jetzt Küchenmeister". Wir Kinder konnten uns ab jetzt kaum auf der Straße sehen lassen, ohne - um es vorsichtig auszudrücken - von den polnischen Kindern belästigt zu werde. Erst abends, wenn es schon dunkel wurde, getrauten wir uns raus um z. B. im Winter (1946/47) noch etwas Schlitten oder Ski zu fahren. Der Schulunterricht war ab sofort für deutsche Kinder unter Strafe verboten, was erst 1950 offiziell wieder aufgehoben wurde. (siehe Extrabericht „Schulzeit 1945 -1958"). Da die Vertreibung der Deutschen aus Wüstewaltersdorf und die Zuwanderung von Polen einen längeren Zeitraum beanspruchte (von 1945 - 1947), waren in dieser Zeit immer noch genügend Spielfreunde da, mit denen wir den Tag vertrieben. Unser Aktionsradius reichte bis rüber in die Gemarkung Jauernig, in die nun leeren Gefangenenlager der Organisation Todt, die hier in der Gegend um den Wolfsberg große Bauvorhaben betrieben hatten und lange geheim waren. Erst nach dem Krieg sickerte langsam durch, daß hier ein unterirdisches Raketenforschungszentrum des Herrn Werner von Braun entstehen sollte, neben einem weiteren Führerhauptquartier, was aber bis heute nicht bestätigt ist. Auf diesem Gelände trieben wir uns herum. Hier gab es brauchbares in den verlassenen Lagern. Nägel, Schrauben u. v. m., wie in einem heutigen Baumarkt. Aber auch Holzschuhe nahmen wir mit, die die Gefangenen getragen hatten, und die wir später mangels Winterschuhe selber, die Füße mit Lumpen umwickelt, tragen mußten. In diesem Baugelände der Organisation Todt, standen aber auch Kipploren auf Schmalspurschienen herum, auf die wir uns setzten und auf der angelegten Schienenanlage herunterbrausten. Das war sehr gefährlich und wir hatten Glück, daß nie etwas Ernsthaftes passiert war. Später, ab Ende 1947, hatte das Herumlungern ein Ende. Ich mußte schon, erst11-jährig, helfen zum Lebensunterhalt mit beizutragen. So ging ich zum polnischen Bauern Janicki (früher, vor der Vertreibung, Bergpiefel-Bauer) um Kühe zu hüten, was am Ende des Tages einen Liter Milch und das Essen für mich tagsüber einbrachte. Einmal wollte mir ein polnischer Junge meinen Schlitten wegnehmen. Ich hatte aber so lange darum gekämpft, bis er es aufgab. Das gleiche erfuhr auch mal mein Freund Hans-Heinrich, der im Klingberg-Haus mit seiner Mutter und zwei jüngeren Geschwistern bei seinen Großeltern Klingberg wohnte. In letzter Minute konnte er sich mit dem Schlitten über den spitzen Eisenzaun retten, an dem er sich dann ziemlich schwer am Bein verletzte. Ich wurde auch einmal von polnischen Kindern festgehalten und mußte alles in meiner Hosen- und Jackentasche befindliche hergeben. Wehren durften wir uns auf keinen Fall, das hätte fatale Folgen haben können, schließlich waren wir doch rechtlos. Unsere Eltern mußten in dieser Zeit bis 1948 weiße Armbinden tragen, zur Erkennung als Deutsche. Einmal im Winter, es war schon in den späten Nachmittagsstunden und es hatte stark geschneit, so daß die Schienen der Wüstewaltersdorfer Kleinbahn stark zugeweht waren, mußten deutsche Frauen aus dem Ort, zu denen auch meine Mutter zählte, die Bahnlinie wieder freischaufeln. Unsere Väter waren ja zur Arbeit. Erst spät abends kam meine Mutter müde und erschöpft zurück, zumal ja auch die entsprechende Ernährung fehlte. So wurden die deutschen Frauen immer wieder gezwungen schwere Arbeiten zu verrichten. Aber auch unsere Väter, die von den Polen als Facharbeiter in der Firma verpflichtet wurden, hatten neben ihrer Tätigkeit auch die Aufgabe, polnische Fachkräfte heranzuziehen, obwohl sie der polnischen Sprache nicht mächtig waren. Die Verantwortung für die Erfüllung des Arbeitsplanes, wie es in den kommunistisch gelenkten Betrieben der Fall war, lastete auf ihnen. Bei Nichteinhaltung der Planungsdaten konnte dies leicht als Sabotage ausgelegt werden, was zu stundenlangen Verhören der Geheimpolizei führen konnte. Aber durch die fachliche Kompetenz waren unsere Väter auch geachtet, was eine relative Sicherheit ihrer Familien zur Folge hatte. Unser Alltag war aber fast zu 100 Prozent mit der Beschaffung von Lebensmitteln ausgefüllt. Es war ein schwerer Kampf um das tägliche Brot. Es mußten Holz, Kohle und Kartoffeln für den Winter besorgt werden, was sehr viel Organisationstalent und Einsatz abverlangte. Nach Lebensmitteln, die immer rar waren (Brot, Fleisch etc.) mußten unsere Mütter oft stundenlang vor den Geschäften Schlange stehen. Zu dem kam, daß sie der polnischen Sprache nicht mächtig waren, was oft zu Problemen führte. Aber es gab auch hilfsbereite Polen, und mit den Jahren verbesserte sich das Zusammenleben. Natürlich mußten wir uns alle erst an die polnische Mentalität gewöhnen. Gestohlen wurde auch, was nicht niet- und nagelfest war. So gab es auch in den Betrieben größere Diebstähle, obwohl das gesamte Firmengelände von bewaffneten Posten Tag und Nacht bewacht wurde. So verschwanden trotzdem nicht nur Stoffe und Produkte der Firma, sondern einmal wurde sogar ein lederner Haupttransmissionsriemen gestohlen, so daß eine Zeitlang die Maschinen still standen. Die in den abgelegenen Dörfern lebenden Deutschen wurden auch oft von Einbrecherbanden heimgesucht. Eine Anzeige bei der Miliz wäre zwecklos gewesen. Da die Polen anfänglich auch Angst hatten, in die Wälder zu gehen, teils aber auch aus Bequemlichkeit, wurden die leerstehende Häuser zu Brennmaterial verwertet. Im Laufe der Jahre sank dadurch auch ein Haus nach dem anderen in sich zusammen. Die Witterung tat dazu ihr übriges. Allein in den Ortschaften, Dorfbach, Schlesisch Falkenberg fielen ca. 28 Häuser diesem Handeln zum Opfer. Die nun zum größten Teil polnische Bevölkerung glaubte lange (bis in die 70er Jahre), daß sie wieder aus Schlesien weg müßten, deshalb war ihr auch vieles egal. Sogar Grüften wurden aufgebrochen und Grabfledderei betrieben. So wurde z. B. auch die Schneidergruft auf der Gemarkung Rösner-Bauer auf den Feldern in Richtung Toschendorf, aufgebrochen und eine mumifizierte Leiche aus dem Sarg genommen und außerhalb der Gruft an einen Baum gestellt. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen, als ich nach Toschendorf ging, um bei einem uns bekannten polnischen Bauern (früher Welz-Bauer) Butter zu holen und so an der Schneidergruft vorbeikam. Eines Tages erschien bei uns die polnische Geheimpolizei (in Zivil), es muß 1946 gewesen sein. Wir wußten zuerst gar nicht, um was es hier geht. Erst später erfuhren wir, daß meinem Vater die Mitgliedschaft als Wehrwolf vorgeworfen wurde. Also wurde unsere ganze Wohnung auf den Kopf gestellt, jede kleinste Nische wurde akribisch durchsucht. Dann wurde unser Vater nach Waldenburg mitgenommen und mit weiteren Männern verhört. Unter ihnen war auch Herr Otto Wenke. Die spätere Freilassung war nur dem Umstand zu verdanken, daß bei der Durchsuchung nichts Verdächtiges gefunden worden war und die Aussagen der verhörten Männer (Einzelverhör) gut übereinstimmten. Ab 1950 normalisierten sich die Verhältnisse. Die neuen Bewohner wurden seßhafter und die anfänglich vielen Abenteurer wurden immer weniger und verschwanden nach und nach, denn für sie gab es nichts mehr zu holen. Ab dieser Zeit wurde auch der Rest der Deutschen in Schlesien wieder selbstbewußter. In den großen Städten wie Waldenburg, Schweidnitz, Gottesberg usw. wurden wieder deutsche Schulen eröffnet. Auch kulturelle Einrichtungen wurden gegründet, so wie eine deutschsprachige Zeitung in Breslau ins Leben gerufen wurde. Sie hieß „Die Arbeiterstimme". Ab 1945 gab es ja keine deutsche Zeitung mehr. Auch wir Wüstewaltersdorfer deutschen Kinder der Restgemeinde fuhren ab 1951 mit der Kleinbahn nach Lehmwasser, bei Charlottenbrunn, in die deutsche Schule. Der Zug, also unsere Kleinbahn, fuhr um 6.00 Uhr morgens ab und um 18.00 Uhr kamen wir zu Hause wieder an. Es war ein langer Tag für uns Kinder. Es fuhren auch Verkehrsbusse. Die Fahrkosten konnten unsere Eltern aber nicht aufbringen. Auch unternahmen wir jedes Jahr ein bis zwei Schulausflüge, die unser Lehrerehepaar Müller immer gut vorbereitet hatten. Zurück nach Wüstewaltersdorf. Die Zeit bis 1950 war sehr bewegt und keiner wußte, was morgen sein würde. Aber die Hoffnung, daß die Deutschen wiederkämen, hatten wir noch nicht aufgegeben. Wir erhielten zu der Zeit schon Briefe aus dem Westen und erfuhren so, wie es unseren Verwandten und Freunden dort ging und ergangen war. Auch für sie war dies eine schwere Zeit. Unsere Eltern arbeiteten von früh morgens bis spät abends. Unser Vater half längere Zeit in der polnischen Bäckerei (früher Bittner-Bäcker) aus. Oft verließ er schon früh morgens um 3.00 Uhr das Haus und arbeitete bis 5.30 Uhr in der Bäckerei, wodurch wir natürlich Versorgungsvorteile hatten. Anschließend ging er in die Fabrik (Kaliko) und arbeitete dort bis 14.00 Uhr. Nach dem Mittagessen legte er sich nur kurz hin, um dann bei Seyler-Klingberg in der kleinen Landwirtschaft zu helfen. Hier lebten anfänglich bis ca. 1949 Herr und Frau Weiser mit Magda Weiser, Herr und Frau Klingberg mit ihren Töchtern und Redlin, Heinrich und Reich mit vier Enkelkindern. Auch wir waren oft bei Klingbergs und spielten mit den Kindern. Später hatten wir aber auch oft auf den Feldern geholfen oder bei der Heuernte, die überwiegend mein Vater und ich mit einem Handwagen einfuhren. Aber auch bei der Kartoffelernte oder beim Kirschenpflücken war ich dabei. Herr Weiser starb etwa 1949, auch Herr Klingberg starb ebenfalls etwa um diese Zeit. 1950 erhielten dann die Frauen Redlin und Heinrich mit Ihren Kindern die Ausreise nach dem Westen (Familienzusammenführung), wo sie in Kirchheim/Teck unterkamen. Wir hatten nun unsere Spielfreunde verloren. In der ersten Zeit (die genauen Jahresdaten sind immer schwer anzugeben) gab es für die deutsche Bevölkerung auch Ausgangssperren. Soweit ich mich erinnern kann, ab 21.00 Uhr. Wer ab dieser Zeit auf der Straße angetroffen wurde, mußte mit Haft rechnen. So erging es meinem Vater, der sich dann aber nur durch sportlichen Einsatz der Haft entziehen konnte. Auch am 1. Mai bestand vormittags die Pflicht an der Maikundgebung teilzunehmen, außerdem bestand Alkoholausschankverbot. Hier hatte unser Vater mal das Pech eingesperrt zu werden. Das Gefängnis war in den Kellerräumen der Websky Villa. Meine Mutter hatte große Ängste auszustehen, aber einem uns gut bekannten Polen gelang es, unseren Vater frei zubekommen. Auch wurden Verstecke deutscher Familien, die ihre wichtige Habe vor ihrer Flucht versteckten, einmauerten oder vergruben, aufgespürt und ausgeplündert. Jeder, der die Heimat verlassen mußte, dachte doch, dies sei nur für kurze Zeit. Ab 1950, als uns gleiche Rechte zugesprochen wurden, war dann die Situation von dieser Seite her besser geworden. Auf Wanderungen auf die Eule oder unsere nächste Umgebung sangen wir dann wieder unsere deutschen Wander- und Volkslieder. Einmal wurden wir von deutschen Wanderern aus Oberschlesien auf einer singenden Wanderung an der Eulenbaude angesprochen. Sie waren ganz verwundert, daß wir deutsch singen und sprechen durften. In Oberschlesien war es auch zu dieser Zeit noch streng verboten deutsch zu sprechen. Wir hatten auch Glück, daß wir die evangelische Kirche behalten durften. Sie wurde von der Restgemeinde so gut wie es nur ging gepflegt. Herr Otto Wenke, der zum Lektor ernannt wurde, hatte alles gut im Griff. Jeden Abend um 18.00 Uhr läutete er die Glocken, auch an Sonntagen. Ich erinnere mich noch gut an die Christmessen zu Weihnachten, wenn ein kleines Häuflein von ca. 30 bis 40 Menschen zusammen kam und in der großen Kirche fast nicht zu sehen war. Trotzdem gab es noch einen eigenen Kirchenchor, den eine Zeitlang Herr Otto Nixdorf leitete. Ja diese Zeit hat uns stark geprägt und der Zusammenhalt war groß. Ein besonderes Erlebnis war das 200jährige Kirchweihfest 1953, als die Kirche mit ca. 2000 deutschen Gläubigen aus allen Kreisen, überwiegend aus dem Kreis Waldenburg, voll besetzt war. Es war wieder das erste Mal, daß die Polen im Ort unruhig wurden, denn sie dachten die Deutschen kommen zurück. Die Verpflegung wurde soweit es möglich war, von der Restgemeinde in Wüstewaltersdorf organisiert, denn Einkehrmöglichkeiten gab es ja zu dieser Zeit nicht. Ich kann mich noch daran erinnern, daß unsere Wohnung einem Versorgungsrestaurant gleichkam. Unsere Muttel hatte große Töpfe mit Eintopf gekocht. Später erhielten wir auch Pakete von den Wüstewaltersdorfern aus dem Westen, die Herr Pastor Schmidt Casdorff und seine Frau organisierten. Diese wurden dann bei Herrn Otto Wenke auf die einzelnen Familien aufgeteilt. Was war das für uns für eine Überraschung mal einen Kakao oder eine Tafel Schokolade zu erhalten. In der Blaubeerzeit gab es für uns Kinder viel zu tun. Denn wir gingen in der Hauptsaison fast jeden Tag in den Wald. Es kamen sogar Frauen aus Waldenburg zu uns, die mit unseren Eltern bekannt waren, und wir gingen mit ihnen in die Blaubeeren. Wir mußten weit laufen, bis zum Hirschplan und bis zur Eule zum Eulenturm (Bismarckturm). Da gingen wir mit großen Behältnissen früh los und am späten Nachmittag kamen wir vollbeladen zurück. Teilweise mußten wir uns einen „Blaubeerschein" beim zuständigen polnischen Förster besorgen. Nach der Blaubeersaison veranstalteten wir bei uns ein Blaubeerfest. Hierbei trugen wir kleine Sketchen vom Erlebten in der Blaubeerzeit vor. Es wurde gesungen und Gedichte vorgetragen und natürlich gab es dazu einen schönen großen Blaubeerkuchen mit Streusel. Eine kleine Skizunft hatten wir auch gegründet, der Herr Hermann Hilse, dessen Sohn Walter, Horst Nixdorf und Helmut Berger angehörten. Mit dieser Gruppe ging es jeden Sonntag vormittag auf Skitour. Noch heute denke ich an die schöne unberührte Winterlandschaft und den Pulverschnee. Natürlich fuhren auch meine Schwestern und mein Vater und die anderen deutschen Kinder Ski, aber sie waren bei den sonntäglichen Skiausfahrten nicht dabei. Zu den deutschen kulturellen Einrichtungen, die es ab 1950 in Schlesien wieder gab, ist folgendes zu sagen: Es gab im Raum Waldenburg einige deutsche Theatergruppen, die durch private Initiativen gegründet wurden. Auch gab es wieder deutsche Tanzveranstaltungen. Zudem gab es eine berufliche deutsch-polnische Kulturgruppe mit dem Namen: Freundschaft. Die Gruppe bestand aus einem großen Chor, einer Volkstanz- und Ballettgruppe und einer Operettengruppe mit Orchester. Der Leiter dieser Gruppe war Prof. Klosnowski, gleichzeitig war er auch der Dirigent und sprach sehr gut deutsch. Die Mitglieder dieses Ensembles waren überwiegend Deutsche. Die Gruppe hatte ihren Sitz in Bad Salzbrunn. Die Kulturgruppe reiste im ganzen Lande (Schlesien) herum und führte deutschsprachige Operetten und Chorgesang mit Balletteinlagen auf. Dort, wo sie hinkamen (bis Oberschlesien), waren die Veranstaltungen immer ausverkauft. In dieser Kulturgruppe „Freundschaft" wirkte auch meine Frau im Chor und der Operettegruppe mit (1955 - 1958). Durch die Aussiedlung der letzten Deutschen wurde auch die Kulturgruppe (etwa 1960) aufgelöst. Eine ähnliche deutschsprachige Kulturgruppe gab es auch in Schweidnitz, über die ein Bildband herausgegeben wurde. Ab 1957 gingen dann wieder weitere Transporte nach dem Westen. Die jetzt aussiedelnden Deutschen konnten schon fast all ihren Besitz mitnehmen. Jedoch gab es Zollbestimmungen, die vieles einschränkten. Devisen, Briefmarkensammlungen, Gemälde u. ä. durften nicht mitgenommen werden. Da wir schon recht bald erkannten und es war auch absehbar, daß es für uns verbliebenen Deutsche keine Perspektive mehr gab, stellten wir Anträge auf Ausreise in die BRD, die aber über Jahre hinweg abgelehnt wurden. Der Grund lag darin, daß unsere Väter in den Betrieben gebraucht wurden. 1958 war es dann so weit, daß die Anträge genehmigt wurden und meine Eltern mit Schwestern im Mai 1958 ausreisen durften. Durch unvorhersehbare Umstände gelang es mir, die Ausreise schon am 14. Februar 1958 anzutreten. Ich konnte mich der Familie Reichelt anschließen, dessen Tochter Gerda meine heutige Frau ist. Das dies möglich war ist für uns heute noch wie ein Wunder, gab es doch, was die Ausreise anbelangte, strenge Vorschriften. Bis 1958 siedelten dann fast alle, bis dahin noch in Wüstewaltersdorf und Schlesien lebenden Deutschen, aus. Der zurückgebliebene Rest (Niederschlesien) lag unter 0,5% der polnischen Bevölkerung. In Oberschlesien sah es ganz anders aus, hier konnte fast die gesamte Bevölkerung bleiben und wurde von der Vertreibung verschont. Erst später, ab den 60er Jahren gingen viele, bei uns, als Spätaussiedler bezeichnet. Erst nach der Wende 1989 organisierten sich die wenigen verbliebenen Deutsche zu sogenannten DKF's (Deutsche Freundeskreise) zusammen, auch teilweise Deutsche sozialkulturelle Gesellschaft genannt. Heute hat sich die Lage in Schlesien grundlegend geändert. Die verbleibenden Deutschen können wieder ihre Sprache und Kultur pflegen und in Oberschlesien gibt es einige Orte, in denen die Deutschen sogar den Bürgermeister stellen.