Aus: Leben und Überleben 1945/46 – Zeitzeugenberichte  aus dem Kreis Neumarkt in Schlesien)

Neumarkt/III

 

Bäuerin Helena Hillmann geb. Haeusler, geb. 1898, Erbscholtisei Neumarkt-Pfaffendorf, schrieb 1951 (zur Verfügung gestellt vom Bundesarchiv Koblenz, Ostdokumentation):

 

Im Besitz eines Tagebuches, welches meine damals 70-jährige Mutter heimlich schrieb, kann ich alle meine Angaben belegen. Am 27. Januar 1945 verließen wir unseren Hof, um nach dem Sudetenland zu trecken. In Gräbendorf bei Kostenblut kamen wir in Quartiere, da kein Durchkommen war. Dort wurden wir am 11. Februar 1945 von den Russen überfallen und zusammen mit 100 Personen in einen Kartoffelkeller gesperrt. Wir verbrachten drei furchtbare Tage und Nächte. Der Keller war noch zur Hälfte mit Kartoffeln gefüllt. Wir mußten darauf liegen, ohne Decken, ohne Licht, ohne Nahrung, mit Posten vor der Tür und einem ein­zigem Marmeladeneimer für die Notdurft von 100 Menschen.

Erst wurden wir alle durchsucht, Schmuckstücke, gute warme Kleidung und Wäsche weggenommen und den Männern die Stiefel ausgezogen. Erst wurden die Frauen und Mädchen herausgeschleppt, dann aber im selben Raum vergewal­tigt. Mit unserer Familie waren zwei junge Mädchen (Hauswirtschaftslehrlinge). B. S. aus Landeshut in Schlesien, 19 Jahre, wurde in einer Nacht neunmal hinter­einander vergewaltigt und als sie sich weigerte, mit einer Maschinenpistole über den Kopf geschlagen. Dabei entlud sich die Waffe und das Geschoß drang der l5jährigen H. R. aus Prisselbach bei Breslau in den Hinterkopf. Ich saß buchstäb­lich in einer Blutlache und hatte doch nichts, um die furchtbare Wunde zu verbin­den. Wir flehten um einen Arzt. Aber statt dessen nahm der Russe die besinnungs­lose B. an den Beinen und zog sie die Steinstufen hinauf, so daß der Kopf immer aufschlug. Sie wurde oben wieder den Soldaten preisgegeben.

 

Sobald die Männer versuchten, ihren Frauen oder Töchtern zu helfen, wurden sie geschlagen. Gutsbesitzer Raimund Kretschmer wurde mit dem Gewehrkolben bearbeitet, als er sich vor seine 16- und l7jährigen Töchter stellte. Er wurde spä­ter mit den beiden Töchtern nach Sibirien verschleppt. Beim schweren Beschuß Gräbendorfs mußten wir alle heraus und die vermeintliche Leiche des Mädchens zurücklassen. Ein junger Eleve von uns versteckte sich in der Scheune. Als er am nächsten Tag nochmals in den Keller ging, bewegte sich H. noch und erkannte ihn. Was muß dieses Kind durchlitten haben!

Wir mußten nun nach Neumarkt laufen. Von unseren Treckwagen, Pferden, Au­tos sahen wir nichts mehr. Da um Neumarkt noch gekämpft wurde, verbrachten wir noch drei schreckliche Nächte im Kuhstall Buchwäldchen. Frauen und Mäd­chen wurden ununterbrochen vergewaltigt, die Männer immer wieder mit Erschießen bedroht. Dies setzte sich auch fort, als wir wieder daheim waren.

 

Mein Mann, der Erbscholtiseibesitzer Bruno Hillmann, wurde am 18. Februar 1945 zum Verhör abgeholt und kam nicht wieder. Durch Rückkehrer habe ich die Nachricht bekommen, daß er am 20. April 1945 im Lager Kandalakscha am Eis­meer, seelisch und körperlich gebrochen, verstorben ist.

Als mein Mann fort war, wurde auch ich nicht mehr geschont, obwohl ich 47 Jahre alt war. Ich wurde jeden Tag durch Posten zur Arbeit in der Stadt geholt. Im Wohnhaus durften wir nicht bleiben und schliefen bei der Arbeiterfamilie Lud­wig. Fast vier Monate schliefen, kochten und wohnten wir zu neun Personen auf dem Fußboden des kleinen Raumes. Ich mußte schwer im Kuhstall arbeiten. Jede Nacht wurden wir von den Russen überfallen, mitunter zehn Mann und mehr, Dies alles neben meinem siebenjährigen Kinde.

In der Nacht vom 27. Februar 1945 um 11 Uhr wurden die alten Leute, auch meine 70jährige Mutter, notdürftig bekleidet bis früh in den verschmutzten nas­sen Schweinekoben gepfercht, und währenddessen schliefen die Russen zwischen uns. Mir ging es immer besonders schlecht, da ich als Frau des Besitzers verraten wurde. Als ich mich zur Wehr setzte, wurde ich durch Schläge, Stiche und Bisse schlimm zugerichtet. Auch am Tage waren wir nie sicher. Am 6. März 1945 wur­de ich vom Essen mittags weggeschleppt und so übel zugerichtet, daß ich völlig gebrochen war. Ich hatte einen Nervenzusammenbruch und wollte nur fort. Aber wohin? In der Stadt nahm mich niemand auf, da sie Angst hatten. Zuletzt wagte es Dr. Leo im Caritasheim, da er sah, daß ich am Ende meiner Kraft war. Ich fieberte stark und war auch angesteckt worden, Eine Behandlung war erfolg­reich. Ich lag dort zehn Tage und fand dann in der Stadt bei einer kinderreichen Familie Nachtquartier.

Ich wurde auch von einem russischen Kommissar durch alle Zimmer unseres Wohnhauses gejagt, dabei geschlagen und mit der Waffe bedroht, weil er keine „Juwelen“ fand. Zum Schluß riß er mir den Ehering vom Finger.

 

Meine Mutter, Frau Maria Haeusler, wurde auch mit 70 Jahren viermal vergewaltigt und ge­schlagen.

Das steht nun in so dürftigen Worten hier auf dem Papier. Was waren dies aber für Tage und Wochen!

Es kann dieses Schreckliche nur verstehen, wer es am eigenen Leibe verspürte und seine liebsten

Menschen dabei verloren hat.