Erinnerungen – der Dora Helene Leistritz, geb. Neumann


Die nachfolgenden Erinnerungen hat meine Mutter, auf mein Bitten 

und Drängen hin, etwa acht Jahre vor Ihrem Tode, aufgeschrieben.

Sie ist am 24.Januar 1996 gestorben.

Ich habe beim Übertragen der handschriftlichen Aufzeichnungen nur

wenig geändert. Ergänzungen von mir sind mit W.L. gekennzeichnet.

Zwischenüberschriften und Bilder habe ich eingefügt.

(Wolfgang Leistritz)

 

Hier ist sie 17 Jahre
Hier ist sie 17 Jahre

Leipe, Konradswaldau

 

Ich bin am 7.5.1914 in Leipe Krs. Jauer (Schl.) geboren. Muttel erzählte immer, daß der Pfarrer einer Braut, die keine Jungfrau mehr war (Unsere Urenkel werden uns mal fragen, was das ist) Kranz und Schleier vor dem Altar abnehmen ließ. Dieser Zeremonie entging meine Mama, indem sie im Kostüm erschien. Das Gesicht dieses bornierten Pfarrers hätte ich sehen wollen. Ich bin ein "5 Monatekind". Mein Vater war zu dieser Zeit als Gutsinspektor bei  einer Frau von Hünerbein in Leipe angestellt. 

Zu meiner Taufe waren meine beiden Cousinen, Hedel Weiß (verh. Eisebith) und Alma Michel (verh. Sprenger) erschienen. Sie waren schon 14 Jahre alt. Ich habe 4 Monate geschrieen. Das sollten die Folgen einer Krankheit sein, die meine Mutter während der Schwangerschaft hatte. Durch Ziegenmilch kam ich aber dann zu Kräften, so daß ich mit anderthalb Jahren laufen konnte. War also ein Spätentwickler. An die folgenden Jahre habe ich keine Erinnerung. Mein Vater war im Weltkrieg. Wenn er auf Urlaub war, bekam ich immer einen Bruder. Er konnte sich also an unserer Erziehung nicht beteiligen.

 

Leipe mit evangelischer Kirche
Leipe mit evangelischer Kirche
Wappen derer von Hünerbein
Wappen derer von Hünerbein
Schloss Leipe, Foto von 1998
Schloss Leipe, Foto von 1998
Berta Neumann mit Kindern, 1916
Berta Neumann mit Kindern, 1916

Als ich etwa 5 Jahre alt war, zogen wir nach Konradswaldau Krs. Trebnitz (Schl.). Der Chef meines Vaters war ein Ökonomierat Mann. Der reiste in der Welt umher und mein Vater, als Guts­inspektor,  konnte wirtschaften, wie er wollte. Das wirkte sich sehr vorteilhaft für die Wirtschaft aus. Mein Vater war ein sehr guter Landwirt.

Wir hatten immer Schäferhunde, die meistens Lux hießen. Einer jagte mal einem Hasen nach, was er aber nicht durfte. Da bewachte er als Sühne ein Messer, welches Vatel draußen vergessen hatte, eine Nacht und 1/2 Tag.

Muttel gefiel es in Konradswaldau auch sehr gut. Sie verkehrte mit Frau Pastor, Frau General, Frau Wachtmeister, Frau Kantor und noch anderen Titeln, denen sie immer von Ihrer Arbeit erzählen konnte. Die Zeit verging. Ich trat in die Schule ein und bekam vom Herrn Kantor ein Buch geschenkt, weil ich schon bald gut lesen konnte. Diese Fähigkeit habe ich inzwischen zur Perfektion gebracht. Ich verschlinge die Bücher. Nach dem 3. Schuljahr kam ich nach Trachenberg, in die Mittelschule. Für Inspektorkinder mußte das so sein. Dort kam ich zu einer alten Handarbeitslehrerin in Pension. Sie strickte Riesenkunststrickdecken und versorgte uns. Ich mußte auch für meine Mutter zu Weihnachten kleine Deckchen stricken lernen. Drei Jahre war ich dort. Jeden Sonnabend nachmittag trabte ich von der Bahnstation Gellendorf durch den Wald (ich fürchte mich heute noch, wenn ich daran denke) etwa 5 oder 6 Kilometer nach Konradswaldau. Montag früh ratterte ich dann mit dem Milchwagen wieder nach Gellendorf, um nach Trachenberg zu gelangen.

Immer mit einem Riesenbrot auf dem Rücken im Rucksack und im Winter mit einer unmöglichen Mütze auf dem Kopf. Ich schämte mich unendlich vor den anderen Schülern. Aber von Psychologie hatte meine Mutter sicher nie etwas gehört. Ich damals auch noch nicht.

Von Konradswaldau möchte ich noch etwas berichten: Als die großen Unruhen im Lande waren, wahrscheinlich 1923, zogen die Aufrührer auf die Güter, um den Landarbeitern ein besseres Leben zu versprechen. Die Arbeiter auf unserem Gut sagten aber, ihnen gehe es gut, besser wollen sie es nicht haben und schlossen das Hoftor. Sie ließen die anderen draußen stehen. Der Gutsherr war ein Humanist, ließ seinen Leuten Häuser bauen, sie bekamen, wie mein Vater auch, Deputat. Während der Inflation ließ er den Lohn "auf Getreide stehen". Wenn sie etwas brauch­ten, holten sie sich Geld vom Gutssekretär und kauften sofort ein,   wodurch das Geld nicht verfiel. Nicht alle "Junker" waren menschenunfreundlich. 

 

Familie Neumann in Konradswaldau, 1923
Familie Neumann in Konradswaldau, 1923
Familie Neumann, 1924
Familie Neumann, 1924

Brandschütz
 

Dann, als ich 11 oder 12 Jahre alt war, zog mein Vater mit uns nach Brandschütz Kreis Neumarkt. Sein Chef in Konradswaldau war gestorben und der Schwiegersohn, ein Ingenieur, übernahm das Gut. Vatel wollte nicht mit einem Nichtlandwirt weiterarbeiten.

In Brandschütz lernte ich meine Jugendliebe kennen und habe in den großen Ferien Lungenspitzenkatarrh gehabt.

Wir, mein Bruder Hans und ich, fuhren mit den

Herrschaftskindern jeden Tag mit der "Gurke", einer uralten Equipage, zur Bahn nach Klein-Bresa, von dort nach Breslau in die Schule. Wir verkehrten mit dreien von den Herrschaftskindern (zwei waren wesentlich älter als wir und die jüngste zu klein). Das war zu diesen Zeiten auch möglich.

Dort in dem herrlichen See habe ich das begonnene Schwimmen fertig gelernt. Auch sind wir viel Kahn gefahren. Mit den Dorfjungen spielten wir Fußball. Ich mußte immer Tor­mann machen, weiß nicht mehr, warum.

 

Der Chef von Vatel war ein Major Frey. Die gnädige Frau hatte eine Schwester, eine alte Jungfer, die sich immer wichtig machen wollte und andere Anordnungen gab, als mein Vater. Da schmiß Vatel "den Dreck hin", obwohl ihn der Chef nicht gehen lassen wollte. Muttel wollte dort auch nicht weg. Sie wird wohl geahnt haben, was auf uns zukam. Aber mein Vater wollte sich selbständig machen. So zogen wir nach zwei Jahren Brandschütz 1928 wieder um, nach Schlesisch-Falkenberg im Eulengebirge. Dort pachtete er von einem Herrn Brieger die Gastwirtschaft "Zum Schlesischen Falken", wozu auch ein größerer landwirt­schaftlicher Betrieb, mit stillgelegter Mühle, gehörte. Leider wurden sich die beiden, mein Vater und Herr Brieger, der als reichster Mann in der Gegend galt, nicht einig und es folgten jahrelang Ärger und Prozessieren. Das gefiel Vatel dann gar nicht mehr.

 

 

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Schloß der Herrschaft Major Frey, Foto von 2005 Dora Neumann und Elisabeth Frey in Brandschütz, 1927
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Breslau zu deutscher Zeit Die Oder bei Brandschütz - Auras, Foto von 2005

 

Schlesisch- Falkenberg

 

Wir haben die alte Bude, d.h. Gastwirtschaft und Landwirt­schaft, wieder in Schuß gebracht, so daß wir vor Arbeit nicht aus den Augen gucken konnten. Die Gaststube war auf der linken Seite und der Saal auf der rechten Seite der Straße gelegen. Bei Tanzveranstaltungen mußten wir alles, Speisen und Getränke, über die Straße tragen. Meine Jugend ist dort untergegangen.

 

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In Schlesisch-Falkenberg angkommen - Familie Neumann und Gäste vor der Falkenbaude, 1928

 


 

Das Gasthaus mit dem stillgeleqten Mühlrad steht heute nicht mehr. Auf der  Fläche ist ein Parkplatz asphaltiert. Der Saal und die landwirtschaftlichen Gebäude, auf der gegenüberliegenden Straßenseite (von Wüstewaltersdorf/Dorfbach kommend, rechts) dienen jetzt als Jugendherberge. Den Teich, der einst für den Betrieb der Wassermühle angelegt wurde, gibt es noch. Das Anwesen liegt gleich oberhalb der Falkenberger Kirche, die ja überlebt hat. Meine Großeltern, Berta und Bernhard Neumann waren von April 28 bis April 36 in Schlesisch-Falkenberg. (W.L.)

 

Trotz der harten Jahre in Schlesisch-Falkenberg erinnere ich mich aber auch an viele heitere Begebenheiten.

Einmal ist Muttel mit dem, wegen seiner guten Ware - er kaufte das Schlachtvieh meist von meinem Vater - bekannten Schwarzer-Fleischer baden gegangen. Nach dem Genuß geistiger Getränke kamen sie auf die Idee, auf unserem kleinen Teich Kahn zu fahren. Muttel wog zu dieser Zeit 187 Pfund, bei ca. 160 cm Körpergröße, Der Kahn war solche Lasten nicht gewöhnt und ging ostentativ unter. Jedenfalls standen Muttel und Herr Schwarzer, der Fleischermeister, bis an den Bauch im Kahn im Wasser. Gott sei Dank war der Teich nicht tief!

Die anderen Gäste schauten belustigt zu, wir auch, es war ja am hellichten Tag.

Wir hatten, außer anderen Löchern, auch eine Milchküche, wo die Milch zentrifugiert wurde und wir auch badeten (aber nicht in Milch). Da war ein Fenster drin, welches wir aber nicht zu ver-hängen brauchten, weil es unter dem Fenster sehr tief hinabging. Das alte Mühlrad, nicht mehr in Betrieb, aber riesig und morsch, brauchte soviel Platz, Als Muttel nun badete, schien plötzlich der Vollmond ins Fenster. Er war es aber nicht, sondern die Glatze eines Stammgastes, der Muttels Proportionen mal unverhüllt in Augenschein nehmen wollte. Wie er dort hinauf und wieder heruntergekommen ist, stellt sich mir heute, nach 55 Jahren, immer noch als Rätsel dar,

Muttel äußerte übrigens nach dem Vorfall ein gewisses Verständnis, da die Ehefrau des Voyeurs, von den Körperproportionen her, das Gegenteil von ihr war.

Die Polizei war früher auch schon unser Freund und Helfer. Herr Raupach, der Ortspolizist von Wüstewaltersdorf, auch für Schlesisch-Falkenberg zuständig, überzeugte sich öfter bei uns, ob Ruhe und Ordnung herrschten. Einmal, es war gerade, außer anderen Gästen, auch Herr Niedenführ (der Gastwirt aus dem Nachbardorf Dorfbach) bei uns. Er wollte sich gewiß mal überzeugen, warum zu uns auch so viele Gäste kamen. Wir hatten kein solches Original aufzuweisen, wie er eins war: wohlbeleibt, trinkfest und immer voller Einfälle. So hatte er seinen Sarg bereits beschafft und im Saal aufstellen lassen. Sein Inspektionsbesuch mußte aber mit seiner Frau nicht abgesprochen gewesen sein, denn sie zeigte uns wegen Polizeistundenübertretung an. Aber, Herr Raupach wird sicher bezeugt haben, daß es so schlimm nicht gewesen sein konnte. Herr Niedenführ war am nächsten Tag auch noch da und machte weiter, da war er unschlagbar.

Sonst zeigte uns immer Herr Brieger, der Besitzer, wegen Poli­zeistundenübertretung an. Er wohnte über der Gaststube! Ansonsten - unsere Spezialität war Hagebuttenwein. Billig

und gut. Ich glaube ein großes Weinglas kostete 25 Pfg.

Die Frauen kamen immer schnell in Stimmung.   Auch deshalb war es oft so lustig bei uns - für die Gäste.

 

 

fremdenverkehr doraneumann32 falkenbaudemitgut
Der Fremdenverkehr entwickelt sich, Busse an der Falkenbaude  Dora als Kellnerin und Dienstmädchen Falkenbaude mit Teich, links Saal und Wirtschaftsgebäude
eulengebirgevonnw prospekt winter
Eulengebirge von Nordwesten, Foto von 2005 Auch die Werbung ist da Schlesisch-Falkenberg, ideal für Wintersport


Aber auch die Landwirtschaft brachte mein Vater wieder hoch. Die Leute hielten ihn zwar erst für verrückt, als er den Berg, nicht wie sie, Karree rauf, Karree runter, bebaute, sondern einfach einkoppelte und das Vieh auf die Weide trieb. Es kam dann erst im Herbst wieder in die Ställe. Man mußte aufpassen, daß man mit dem Melkschemel nicht den Berg herunterkollerte, wenn die Kuh mal weiterrückte. Aber dann staunten die anderen Bauern im Dorf, als sie sahen, was Milch und Vieh einbrachten. Einer nach dem anderen kam, sich Rat holen. Und noch jemand kam, die Blaukreuzler (Blaues Kreuz - Vereinigung zur Rettung von Alkoholabhängigen, gegr. 1877 in Genf -W.L.-). Nachdem sie sich überzeugt hatten, unser Gasthaus war kein Höllenpfuhl, kamen sie, zögernd zwar, aber sie kamen.

Von Jahr zu Jahr kamen mehr Gäste, im Winter zum Skifahren, im Sommer in Urlaub und Ferien. Obwohl immer mehr Arbeit wurde, mußten das Muttel und ich bewältigen. Manchmal abends zum Ab­waschen kam unser Mädel mit dazu. Mein Bruder Helmut, ein Bur­sche und das Mädel waren ja mit Vatel in der Landwirtschaft tätig. Zu Festen, Kirmes, Schweinschlachten, Skatturnieren usw. hatten wir eine Abwaschfrau. Heute haben die Beschäftigten in den Gaststätten zwei Ruhetage und Urlaub.

Aus Gesprächen weiß ich, daß meine Mutter in dieser Zeit eigent­lich nur einen sehnlichen Wunsch hatte, mal ausreichend schlafen zu können. Urlaub oder wenigstens einen freien Tag, Ausflüge, Spaziergänge in dieser wunderschönen Gegend oder gar Skifahren das war alles höchstens in der Phantasie möglich. (W.L.)

 

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Bauernhof Falkenbaude Gaststube Falkenbaude Dora mit Eltern und Fritz Leistritz, 1935

 

Wüstewaltersdorf

Fast am Ende der Pachtzeit, nämlich am 30.Juli 1935 heiratete ich in der evangelischen Kirche Wüstewaltersdorf und konnte mit meinem Mann Fritz im Dezember 1935 in der Neuroder Straße 8 (Leuchtenberger Haus) in unsere Wohnung einziehen. Meine Eltern zogen im April 1936 mit meinen beiden Brüdern, d.h. Hans war bei der Wehrmacht ("Zwölfender") und Helmut beim Reichsarbeitsdienst, nach Eisendorf Kreis Neumarkt in Schlesien.

Sie pachteten dort wieder einen Gasthof ("Zur Reichsautobahn") mit Landwirtschaft. Der Pachtvertrag lief wohl wieder über 10 Jahre. Dann wollten sich meine Großeltern in der sächsischen Oberlausitz, wo mein Großvater herstammte, ein Haus kaufen und den Lebensabend bei Haus- und Gartenarbeit verbringen. Der Traum vom eigenen Häuschen blieb dann leider ein solcher...(W.L.)

Drei Jahre waren wir ohne Kinder. Im November 1938 wurden dann Wolfgang und zwei Jahre später Edith geboren. Mein Mann wurde im Februar 1942 eingezogen.

Mit drei Jahren gingen die Kinder in die Spielschule (Kinder­garten), die anfangs noch von evangelischen Schwestern betreut wurde. Mit Fortschreiten des Krieges wurden derartige Ein­richtungen aber geschlossen. Die Räume wurden mit Verwunde­ten belegt.

Wolfgang trat 1944 in die Schule in Zedlitzheide ein. Der Schulbetrieb ging aber nur ein paar Wochen, dann wurden auch diese Räume für die ersten Flüchtlinge aus dem Osten gebraucht.

 

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Hochzeit 30. Juli 1935, Wüstewaltersdorf Dora mit Kindern, Hintergrund Leuchtenberger Haus, 1940/41 Edith und Wolfgang 1941

 

Eisendorf

In den zwei Jahren von 1942 bis 1944 holte uns Muttel nach Eisendorf, wo wir zwei verhältnismäßig unbeschwerte Jahre verbrachten, von Wolfgangs Gürtelrose und meinem Gelenkrheumatismus mal abgesehen. Dann bekam ich aber aus Wüstewaltersdorf ein behördliches Schreiben, mit der Androhung, daß unsere Wohnung anderweitig belegt würde, wenn wir nicht zurückkämen. So sind wir dann wieder nach Wüstewaltersdorf zurückgekehrt.

           

 

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Bruder Hans heiratet in Eisendorf, 1941 Gasthof zur Reichsautobahn Bruder Helmut1944, noch mit rechtem Arm

 

Wüstewaltersdorf

Wieder zurück in Wüstewaltersdorf.

Als dann die Schulen für den Schulbetrieb geschlossen wurden, erhielten wir auch Einquartierunq. Es war ein älteres Ehepaar aus Ostpreußen, herzensgute Leute. Sie hatten noch geschlachtet und mitgebracht, was sie tragen konnten. Ihre einzige Habe, außer ein paar Sachen. Von allen Eßwaren bekam ich mit den Kindern etwas ab. Sie mußten dann weiter. Soweit ich mich erinnere, Richtung Tschechei.

Die letzten Kriegmonate waren schon schlimm, die vielen Flüchtlinge oder die hungernden russischen Kriegs­gefangenen, die täglich an unserem Haus vorbeimarschierten. Das bedrückte alles die Menschen. Es war für uns aber alles harmlos, gegenüber dem, was kommen sollte.

 

1945 - Mai

Was mache ich nur?

Die Russen kommen!

Sie werden mir die Kinder wegnehmen, uns nach Sibirien schicken

und was wird man sonst noch mit uns tun?

Am 8.Mai, einen Tag nach meinem 31.Geburtstag, ging ich früh gegen 4.00 Uhr zum Chef von meinem Mann, Direktor Willner. Fritz war ja, bis zur Einberufung, als Buchhalter bei Websky, Hartmann Wiesen angestellt. Das war mein Strohalm! Mein Schwiegervater, Karl Leistritz, arbeitete auch noch dort, als Stuhlmeister, und zuvor auch sein Vater, Gottlieb Leistritz. Herr Willner riet mir, in den Fabrikhof zu gehen, wo zwei Last­autos in Richtung Grenze zum Amerikaner abfahren würden. Viel­leicht nähmen sie mich mit. Sie taten es und nahmen mich mit den Kindern, Edith mit ihrer Puppe, ein oder zwei Koffern und zwei Kopfkissen mit. Mit Mühe und Not kamen wir, die Straßen waren von deutschem Militär - alles Richtung Grenze - verstopft, bis ins Reimsbachtal. Da ging das erste Auto kaputt. Wir aus dem zweiten Auto mußten der Besatzung aus dem ersten Auto weichen und aussteigen. Da standen wir nun wieder - eine Grup­pe von 3-4 älteren Männern und 8-10 Frauen. Leider weiß ich die Namen nicht mehr.

Frau Güttler hat mir geholfen, und sich an einige Namen erin­nert. So dürften dabei gewesen sein: Frau Irene Güttler mit Eltern, Frau Erna Fellman und Sohn Hansel, Frau Frenzel mit Töchtern und ein Apotheker mit seiner Frau, der bei Herrn Kaminski arbeitete.

Die Russen sind dann am 8. Mai, nachmittags, von den „Sieben-Kurfürsten“ (Paßhöhe, Richtung Reichenbach) ins Dorf gekommen. (W.L.) 

Die Männer nahmen unsere Gepäckstücke und brachten sie in ein nahegelegenes kleines Gasthaus in Sicher­heit. Die Russen kamen uns ja schon entgegen! Wir versuchten ihnen auf Seitenwegen auszuweichen und wieder die Richtung Heimat einzuschlagen. Angstvoll beobachteten wir einen langen Zug Mongolen vorbeiziehen. Man erinnerte sich an die vielen Gerüchte, die bei uns umgingen. Es gab ja keine Zeitung, kein, Radio, nichts. In der Nacht wanderten wir über Wiesen, Äcker, durch Wald, Gebüsch und Morast. Die armen Kinder an meiner Hand stolperten über jede Unebenheit mit mir mit. Wir waren naß, schmutzig und froren jämmerlich. Es schoß und knallte immer um uns herum. Gegen Morgen machten wir Rast in einem Wald. Wolfgang und Edith schliefen vor Übermüdung sofort ein.

Ein paar deutsche Soldaten begegneten uns, die sich auch versteckt hatten. Sie meinten, es soll Waffenstillstand sein. Wir hörten aber immer noch Schüsse.

Als wir aus dem Wald auf die Straße traten, liefen wir direkt einer Gruppe russischer Soldaten in die Arme. Wir mußten alle unsere Hände heben. Mich hatte niemand auf diesen Mo­ment vorbereitet, so büßte ich meinen Trauring und einen anderen Ring auf der Stelle ein. Andere waren schlauer gewesen! Das war in der Nähe von Rudolfswaldau. Am Abend kamen wir dann endlich im Wüstewaltersdorfer Ortsteil Grund an. Nach Wüstewaltersdorf trauten wir uns an diesem Abend noch nicht. Das mußte ich bitter bereuen! Wir kamen bei Bekannten meiner Nachbarin und Freundin, Erna Fellmann, unter. Vier russische Soldaten fanden die Tochter des Hauses und mich. Wir erlitten das Schicksal ungezählter deutscher Mädchen und Frauen im Osten.

 

Rückkehr

Am nächsten Morgen beendeten wir die Odyssee und kehrten nach Wüstewaltersdorf zurück. Meine Wohnung fand ich so vor, wie ich sie verlassen hatte.

Wir kamen aber nicht zur Ruhe. In den Nächten zogen russische Soldaten herum und wollten in die Häuser eindringen. Wir, Frau Fellmann mit ihrem Jungen, meine Kinder und ich schliefen mehrere Nächte in einem anderen Haus. Die verbliebenen Männer saßen nachts hinter der Haustür, als Wache. Wenn nun die Sol­dateska an die Haustür donnerte und Einlaß begehrten, zogen sie wieder ab, wenn sie die Reihe Männer sitze sahen. Da nach haben wir noch einige Woche auf dem Wäscheboden in unserem Haus geschlafen. Die zwei alten Männer, die noch im Haus waren (Herr Gebauer, Herr Berger?), rückten uns immer einen Schrank vor die Tür. Es herrschte auf den Straßen viel Unruhe. Wir schliefen kaum, vor Angst, daß die Kinder schreien und uns verraten würden.

Ich erinnere mich noch, wie wir von den Dachfenstern aus durchziehende russische Truppen beobachteten. Dabei fielen Ausrufe, wie -" Dort, lauter Mongolen", oder -" Das sind ja Flintenweiber"! (W.L.)

Einige Tage nach unserer Rückkehr vom Reimsbachtal brachte uns jemand von unserer Gruppe die Koffer und Kissen zurück. Darüber habe ich mich sehr gefreut, leider weiß ich auch nicht mehr, wer es war.

Nun begann die große Hungerszeit. Das war das Schlimmste von allem. Wer nicht erlebt hat, wenn Kinder hungern müssen und man ihnen einen gefundenen Apfel wegnehmen muß, weil daraus eine Soße gekocht werden konnte, soll auch nicht darüber reden. Mit Freude brachten mir die Kinder eine im Bach ge­fundene Kartoffel. Sie wurde zum Hauptbestandteil einer Mahlzeit. All das Bittere vergesse ich mein Lebtag nicht. Damals habe ich viel Pilze, Holz und Tannenzapfen aus dem Wald geholt. Die Pilze halfen uns über die schlimmste Zeit hinweg. Als hätte die Natur unsere Not erkannt, es gab be­sonders viele Pilze.

Wir sahen nun, daß die Besitzergreifung Schlesiens durch die Polen mit Konsequenz und Brutalität betrieben wurde. Ein endloser Zug Deutscher, es hieß aus Ludwigsdorf und anderen Dörfern, eskortiert von berittenen Polen, zog durch Wüstewal­tersdorf. Die ganze darauffolgende Nacht saßen wir im' Haus zusammen, beratschlagten und jammerten.

 

Es war die Zeit der sogenannten "wilden Vertreibung". Allerdings zeichneten sich die späteren, mit den Alliierten mehr oder weniger abgestimmten Transporte auch nicht gerade durch Humani­tät oder gar gute Organisation aus.

In dieser Zeit der "wilden Vertreibung" waren es in erster Linie die Bauern, die betroffen waren, da den aus Galizien nachrücken­den Polen sicher Ausgleich für ihre verlorene Heimat und Höfe versprochen wurde. Das war auch der Hauptgrund für die große Hungersnot. Aber auch andere Gründe für die besonders ausufernde Willkür in dieser Zeit, kurz nach Kriegsende, gab es. Ich erin­nere mich an die vielen willkürlichen Hausdurchsuchungen: Drei Mann Miliz, mit schußbereiter MPi, zwei oder drei Mann in Zivil, am Schluß wieder zwei Mann Miliz. Wenn z.B. eine Wohnung begeh­renswert war, so "fand" man eine Eierhandgranate und die Familie wurde sofort ausgewiesen. (W.L.)

In dieser Zeit wurden wir auch mit vielen anderen Dorfbewohnern aus den Häusern gejagt. Die Gerüchte, die umgingen, übertrafen sich an Schreckenvisionen: Es geht nach Polen, Rußland oder gar Sibirien zum Arbeiten oder um in den Tod getrieben zu werden wir werden von den Kindern getrennt usw. Ich nahm den Leiter­wagen, habe ein Kissen reingelegt, die Kinder und eine Tasche oder Rucksack eingeladen und bin auch zum Hacketeich gefahren, wo wir uns sammeln mußten. Dort bin ich mit den anderen ange­treten. Lange haben wir gestanden. Da hieß es plötzlich, die Frauen, deren Männer in der Fabrik gearbeitet hätten, bekämen eine Bescheinigung und könnten hierbleiben. Ich los mit dem Leiterwagen, den Hanischberg hinauf zum Fabrikbüro. Polen riefen uns etwas nach, es wurde auch geschossen, ich habe mich nicht umgesehen. Ich bekam tatsächlich die Bescheinigung! Erleichtert zogen wir das kleine Gäßchen, hinter unseren Hausgärten, an der Fabrik entlang, nach Hause. Unser Hof wurde von der Fabrik begrenzt. In diesem Teil des Fabrikgebäudes gab es kleine Nebenräume, die aber eine Tür zu unserem Hof hatten. Diese Räume wurden z.T. von Hausbewohnern genutzt, zur Kaninchenhaltung oder als Schuppen. Frau Fellmann und Bergers steckten mich mit den Kindern in so ein Schüppchen, ohne Fenster. Wir haben den ganzen Tag drin zugebracht und das war gut so. Wahrscheinlich hatten es die Polen auf meine Wohnung ab­gesehen, denn sie erschienen schon wieder und fragten Hausbewohner nach uns, ganz dicht vor unserer Tür. Er­schrocken war ich, als unsere Landsleute auskunftswillig meinten: "Die müssen noch hier sein, wir haben sie nicht fortgehen sehen." Welche Angst ich ausgestanden habe, daß sich die Kinder verrieten, kann man sich wohl denken. Noch einmal wurden wir in Angst und Schrecken versetzt. Wir sollten wieder rausgeschmissen werden. Da ich die Bescheinigung hatte, ignorierte ich die Aufforderung, blieb zu Hause und schloß uns ein.

Unsere Wohnung hatte keinen Korridor. Durch eine Doppeltür ge­langte man direkt in die Küche. Von der Küche ging es dann links ins Wohnzimmer, rechts ins Schlafzimmer. (W.L.)

Nach einer Weile donnerte es an die Wohnungstür. Ich hatte mich mit den Kindern im Wohnzimmer auf ein Fell, das vor dem Büfett lag, gesetzt. Wir rührten uns nicht. Das Wummern an der Woh­nungstür hörte nicht auf, bis die Doppeltür nicht mehr stand hielt und krachend und splittern barst. Dann schlug jemand die Türfüllung zum Wohnzimmer mit einer Axt entzwei. Der Pole kam durchgestiegen und stand mit erhobener Axt vor uns und brüllte: "Raus, raus, raus!" Edith schrie entsetzlich vor Angst. Ich stand auf, der Pole schrie weiter sein "Raus, raus", setzte die Kinder auf den Küchentisch, um ihnen die Schuhe anzuziehen. Da kam ein anderer Pole, der erste war hinausgegangen. Ich zeig­te ihm die Bescheinigung, worauf er überraschend sagte: "Gut, bleiben".

 

Einquartierung 

Diese Schreckenstage sitzen fest im Gedächtnis und sind schuld an manch schlafloser Nacht.

Im Spätsommer oder Früherbst 1945 bekam ich Einquartierung, einen Polen, er hieß Peter Lesch und war aus Krakau. Er wurde von einem anderen Polen begleitet, der ihn mir als "Leiter" vorstellte. Ich nehme heute an, er war in der Kommunal­verwaltung von Wüstewaltersdorf, die auch hier, wie andernorts, von den Polen übernommen wurde, angestellt. Wir organisierten mit Frau Fellmanns Hilfe ein Bett, das wir im Wohnzimmer aufstellten. Darin schlief er, manchmal auch mit seiner Braut, einer sehr stark geschminkten Polin. Für uns blieb nun das Schlafzimmer als Wohnraum. In der Küche aßen wir gemeinsam.

So war ich Dienstmädchen in meiner eigenen Wohnung, mußte für ihn kochen, waschen und saubermachen. Das Positive an dieser Situation war, daß wir von seiner Lebensmittelzuteilung etwas abbekamen. Später sogar von den Care-Paketen, die ja auch an die Polen geschickt wurden. Was wir bis dahin immer so aßen, versah Herr Lesch mit dem Ausspruch: "Das ist für Kuh". Irgendwo hatte ich ein Plakat gelesen, daß unser Hab und Gut Eigentum der polnischen Regierung sei. Herr Lesch sah sich auch als Eigentümer meiner Sachen an. Als ich meine silbernen Kuchengabeln (ein Hochzeitsgeschenk meiner Cousine Hedel Eisebith) versetzt hatte, bekam ich große Vorhaltungen.

Nach unserer Vertreibung erfuhren wir durch Großvater Karl Leistritz, der erst viel später die Heimat verließ, da er in der Fabrik gebraucht wurde, daß unsere Möbel einen Tag nach uns in Richtung Krakau abtransportiert wurden. (W.L.)

Ansonsten redete er mir wenig drein. Er merkte wohl auch, daß das vollkommen überflüssig gewesen wäre. So lebten wir also dahin, immer in Sorge. Wie lange geht es noch so? Wie wird es weitergehen?

Meine Mutter erzählte auch immer, daß die "Polonisierung" weiter voranschritt. Die Geschäfte wurden von Polen übernommen und die Wüstewaltersdorfer staunten nicht schlecht, was da für Warensor­timente in einem Schaufenster angeboten wurden (Kamm + Butter, Kraut + Rüben). (W.L.)

Im Frühjahr und Sommer liefen dann die "planmäßigen" Evakuierugsaktionen an. Zuerst betraf es die Bauern. Soweit sie noch in ihren Wohnungen waren, konnten sie mitnehmen, was sie tragen konnten. Verbote mußten beachtet werden (Dokumente, Maschinen und elektr. Geräte u.v.a.).

Mein Pole hatte mich reklamiert, so war ich zunächst nur Beob­achter dieses großen Dramas des deutschen Ostens. Als dann der dritte Treck losging, hätte ich wieder eine Verlängerung bekommen können. Es war Frau Fellmann, die mir klarmachte, daß wir dann Polen werden müßten, die Kinder hätten dann die polnische Schule zu besuchen! Das gab den Ausschlag!

 

Nun Ade, Du mein lieb Heimatland

So ging es am 18.August 1946 mit den meisten, der noch ver­bliebenen Einwohner von Wüstewaltersdorf, los. Wir sammelten uns wieder auf dem Hacketeich. Kinder und alte Leute wurden gefah­ren. Ein rasanter Pole wollte meine Kinder aber vom Wagen runterschmeißen, da habe ich auf deutsch losgelegt und sie obengelassen. Jedenfalls zog er weiter, vielleicht hatte er es verstanden. Ich konnte meinen Leiterwagen, mit einem Bettsack (zwei Oberbetten, zwei Kopfkissen und eine Kinderzudecke), einem Kleider- und Schuhsack, einem Koffer mit den letzten Lieblings­stücken und einer Tasche mit etwas Verpflegung, an einen der Pferdewagen anhängen. Die begleitenden Polen wollten ihn noch in Wüstewaltersdorf wieder abhängen. Ob ich mich auf Lesch be­rief oder schimpfte oder weinte, das weiß ich heute nicht mehr. Jedenfalls durfte ich ihn angehängt lassen, sonst hätte ich wohl blos die Lebensmitteltasche fortgebracht. Ich muß immer wieder sagen, Menschen, die dergleichen nicht er­lebt haben, sondern in sicherer Ferne saßen, sollen dazu am besten schweigen. Sich auch nicht so wundern, daß Flüchtlinge so wenig besitzen. Wir haben später viel Ungerechtigkeiten hören aber auch erdulden müssen. Wobei es, wie überall, gute und schlechte Mitmenschen gibt.

Das erste Ziel unseres Trecks war die große Schule, in Waldenburg-Altwasser, die als Sammelpunkt diente. So zogen wir denn los durch Neugericht, Richtung Hausdorf, Wal­denburg. Wir sollten unser Wüstewaltersdorf erst 1964 einmal wiedersehen, als Besuche wieder möglich wurden. Es ist eine Strecke von knapp 18 km, meist bergig, bis Walden­burg. Als wir gegen Abend dort ankamen, goß es in Strömen. Wir standen vier Stunden auf dem Schulhof, bis für die Neu­ankömmlinge Platz geschaffen war. Unsere Sachen wurden triefend naß und bleischwer. Wir halfen uns gegenseitig, Frau Fellmann, Frau Wiesner und die Schwägerinnen von Frau Fellmann, das Ge­päck hineinzuräumen. Ich glaube, bis in den 3. oder 4.Stock. Wir schliefen im Flur in und auf unseren nassen Sachen und das zwei Nächte.

Dann ging es los! Vorher durch die Kontrolle. Das heißt, das Beste und Schönste von dem Wenigen, was wir noch besaßen, wurde uns auch noch weggenommen. Ich büßte dabei meinen Koffer mit dem gesamten Inhalt ein. Es waren die letzten Andenken und eini­ge Lieblingsstücke, an denen ich besonders hing. Sehr schmerzlich, der Verlust aller Fotoalben, die ich immer ge­hütet hatte, wie meinen Augapfel. Ursache war eine im Koffer befindliche Kristallschale, was verboten war (oder auch nicht).

Wolfgang trug auf seinem Rücken ein Rucksäckel mit meinem Besteck, obenauf Brot, in der Hand eine Milchkanne mit Kaffee. Die Kanne ließ er in der Aufregung stehen. Den Ruck­sack ließ man ihm. Später haben sie auch die Kinder durch­sucht.

Wolfgang war noch nicht acht und Edith noch nicht sechs Jahre alt. Wie man das alles so mit den kleinen Kindern überstanden hat, weiß ich heute auch nicht mehr. Aber, es ging ja so vielen so. Frau Wiesners alte Mutter begriff wohl gar nicht mehr, was da so alles mit uns geschah. Das gleiche Unglück half, alles zu ertragen.

Wir wurden in Güterwaggons verladen. Unser Gepäck schichteten wir an den beiden Stirnseiten auf, es war ja noch ganz naß. Wir Erwachsene saßen und lagen dazwischen, die Kinder auf dem aufgetürmten Gepäck.

So fuhren wir drei Tage in Richtung Westen. Die erste Station war Kohlfurt, wo wir mit Insektengift voll­geblasen, "entlaust" wurden. Meines Wissens hatte von uns keiner Läuse.

Es wurde jede Öffnung in der Kleidung genutzt, um das Gift hi­neinzupusten. Ich weiß noch, daß ein Altersgenosse von mir ausrief: "Die bloasa sugoar eia Hosakoascher!" Es war damals noch nicht bekannt, wie gefährlich DDT ist. (W.L.)

Der Zug hielt auch schon mal auf offener Strecke, damit dringen­de Bedürfnisse befriedigt werden konnten. Jemand hatte  eine Gurke mit, die Schalen wurden zur Gesichts­wäsche verteilt. Unser Proviant war ja auch naß geworden und fing an zu schimmeln. Da haben die anderen an uns abgegeben. In unserem Waggon waren noch Frau Fellmann mit Sohn Hansel, Frau Wiesner mit Mutter und Frau Leuchtmann und Frau Ventur, die Schwägerinnen von Frau Fellmann. An die anderen Leute kann ich mich nicht mehr erinnern, der Waggon war jeden­falls überbesetzt.

Wir werden Ossis

In Magdeburg hatte man durchgesagt, wer in der russischen Zone bleiben möchte, solle hier aussteigen. Das war aber nicht bis in unseren Waggon gedrungen. Meine Schwägerin Eise Leistritz kam an unseren Waggon, mir das mitzuteilen. Ich vermutete meine Eltern in Spitzkunnersdorf Kreis Zittau in Sachsen, der Heimat meines Vaters, da dort sein Bruder das väterliche Gut bewirt­schaftete. So stiegen wir aus und fanden uns mit Frau Hausdorf, Fräulein Päsler und noch einer Frau aus Wüstewaltersdorf zusam­men. Die anderen Landsleute fuhren weiter, in die englische Zone.

Das junge Mädchen und ich, wir verluden das Gepäck. Dazu bekamen wir einen sehr schweren eisernen Gepäckwagen und bugsierten da­mit das immer noch nasse, schwere Gepäck zum Güterbahnsteig. Die Entfernung kam uns endlos vor. Dort wollte man uns erst nichts abnehmen. Wir sahen aber so verwahrlost aus, wie Flücht­linge und es ja Flüchtlingsgut war, erbarmte man sich endlich. Darüber verging die Nacht.

Die Kinder wurden von den anderen beiden Frauen bewacht. Sie schliefen buchstäblich auf dem Pflaster in irgendeinem Durch­gang des Bahnhofs.

Am anderen Morgen trennten wir uns dann. Ich erfragte den Zug nach Dresden. Mit viel Not und Mühe und bestimmt wegen der klei­nen Kinder wurden wir im Paketwagen mitgenommen, der war aber auch schon überfüllt. Wir hingen mehr, als das wir saßen oder standen.

Als wir dann in Dresden ankamen (Fahrtzeit bestimmt vier Stun­den -W.L.), waren wir geschafft, warten auf den Zug nach Zittau, weiß nicht mehr, wie lange. Der Zug nach Zittau - über­überfüllt. Nirgends ein Platz! Ich muß wohl losgeheult und ge­jammert haben. In einem kleinen Abteil rückte man zusammen. Ich bekam für mich sogar einen Sitzplatz, konnte ein Kind auf den Schoß nehmen, ein Mitreisender nahm das andere Kind. Irgend jemand gab mir ein Taschentuch für die Tränen und die Nase. Das habe ich nicht vergessen!

Die Fahrt ging ins Ungewisse, da ich nicht mal wußte, wo Spitz­kunnersdorf überhaupt lag. Ich war nur als Vierjährige, gegen Ende des ersten Weltkrieges, dort gewesen. Nachdem ich die Mitreisenden gefragt hatte, begann ein kleiner Streit. Die beiden Parteien wurden von zwei Herren angeführt. Einer wollte mich nach Leutersdorf (Umsteigen in Eibau) schicken und dann mit dem Bus nach Spitzkunnersdorf. Aber damals verkehr­ten keine Busse, woran niemand dachte. Der andere Herr, ein netter, älterer; er wirkte sehr vertrauenserweckend auf mich, sagte, daß ich bis Niederoderwitz fahren müßte und dann laufen. Wir stiegen also in Niederoderwitz aus. Am Schalter fragte ich nach dem Weg. Es stellte sich heraus, daß der Schalterbeamte Bruno Ebermann, der Bruder von Tante Lina war. Tante Lina war die Schwägerin meines Vaters. Dort wollten wir ja hin! Wir erfuhren, daß es gute 4 km bis Spitzkunnersdorf sei. Die Tasche mit den verschimmelten Lebensmittelresten gab ich dort auf.

Wir tippelten nun los. Wie schwer uns, besonders den Kindern, der Weg wurde, wer kann es ermessen. Als wir an der Straßen­gabelung bei den "Dreihäusern" nicht mehr weiter wußten, kam eine Radfahrerin, die mir den Weg zeigte. Sie wollte auch nach Spitzkunnersdorf, in die Nähe der Kirche, auch unser Ziel. So erbot sie sich, Edith mitzunehmen. Ich kann bis heute nicht begreifen, daß ich Edith der fremden Frau mitgab. Bisher hatte ich mich nie von den Kindern getrennt. Aber, ich hatte kein Mißtrauen, Edith konnte nicht mehr laufen und ich sie nicht mehr tragen. Wir haben nie erfahren, wer jene Frau war. Es muß wohl ein Engel gewesen sein!

 

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So oder so ähnlich auch wir (Quelle Der Spiegel) Abtransportbahnhof Waldenburg-Altwasser Wehe den Besiegten! (Quelle Der Spiegel)

 

Spitzkunnersdorf

Hier enden die Aufzeichnungen. Ich will noch ergänzen, daß uns am Ortsausgang von Spitzkunnersdorf mein Vater, der als Ver­wundeter aus amerikanischer Gefangenschaft entlassen worden war und mein Onkel Helmut, der im April 45 noch den rechten Arm verloren hatte, entgegen kamen. Wir hatten das große Glück, daß mein Großvater, Bernhard Neumann, in Spitzkunnersdorf geboren ist und das väterliche Gehöft dort von seinem Bruder bewirtschaftet wurde und daß die Neiße nicht ein paar wenige Kilometer westlich floß. Wir wurden alle aufgenommen und konnten uns auf einmal satt essen!

Meine Mutter verdiente sich dann Geld mit Schneidern, da gab es in Spitzkunnersdorf genug Arbeit, nach der Devise, aus Alt mach Neu. 1949 haben sich meine Eltern scheiden lassen. Vater hat dann noch 2x geheiratet (die zweite Frau war gestorben). Er ist 1957 in den Westen gegangen, seine Verwandten, Vater und zwei Brüder hatte es nach der Vertreibung dorthin verschlagen.

Später (1952) nahm Mutter mit 38 Jahren noch ein zweijähriges Lehrerstudium in Dresden auf und arbeitete bis zur Pensionierung als Lehrerin im Nachbarort Großschönau. Später zog sie nach Zittau. (W.L.)

 

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Unser neues Zuhause, das Neumann-Gut, Spitzkunnersdorf Wir, 1951 Lehrerin Dora Leistritz mit ihrer Schulklassein Großschönau

 

Dora Leistritz, geborene Neumann, meine Mutter, ist am 24. Januar 1996 in Großschweidnitz Kreis Löbau/Sachsen im Krankenhaus gestorben.

Mein Schwester Edith Görner, geborene Leistritz, ist am 24. April 2007 im Krankenhaus Zittau gestorben.